Adventistische Tugenden

15. Jul. 2024 / Wissenschaft & Forschung

Fragen der Moral begegnen uns auf Schritt und Tritt. Was sollen wir angesichts eines grauenvollen Krieges tun? Wie kann ich in einer konsumgeprägten Welt christliche Haushalterschaft leben? Wer müsste entscheidende Beiträge leisten, wenn Familien sich zerstreiten? Und wo ist mehr Geduld, mehr Mut, mehr Hingabe gefragt – und wo weniger, weil „Geduld“ auch Lethargie, „Mut“ auch Unvernunft und „Hingabe“ auch kontraproduktiver Aktivismus bedeuten kann?

Woher Handlungsentscheidungen ableiten?

In der Ethik werden all diese Fragen grundsätzlich diskutiert: Sollen wir unsere Handlungs­entscheidungen von Zielen her ableiten oder doch lieber von einer Pflichtidee wie bei Immanuel Kant? Immer je nach Situation ganz neu abwägen, oder taugt die alte Vorstellung von der Tugend noch etwas? Da ich hier an der Theologischen Hochschule als Systematischer Theologe auch für diesen Bereich der Moralreflexion zuständig bin, habe ich mir für die nächsten Jahre vorgenommen, die adventistische Ethik weiterzuentwickeln.[1] Momentan befasse ich mich dabei mit einem der ältesten Ansätze – nämlich der sogenannten Tugendethik, die sich schon bei Aristoteles findet.

Ideale, die wir anstreben

Eine Entdeckung der letzten Monate ist: Siebenten-Tags-Adventisten haben in ihrer Geschichte nicht nur (bekannte und von den Zehn Geboten herkommende) Hauptaugenmerk auf konkrete Handlungsnormen gelegt – und, daraus abgeleitet, auf Pflichten. Adventistische Moralvorstellungen waren immer auch deutlich in eine Sphäre von Tugenden eingebettet. Diese verkörpern als Gegenstück zu den Normen (meistens Verbote, also Minimalforderungen) die Ideale, die wir anstreben: Gerechtigkeit. Liebe. Fleiß. Demut.

Tugenden? Typisch adventistisch!

 Gibt es nun so etwas wie typisch adventistische Tugenden? Sicherlich – Hoffnung (denn wir sind auf Gottes Zukunft hin orientiert), Geduld (denn diese Zukunft wird nicht schnell Wirklichkeit, wie viele es sich wünschen), Ordnung und Selbstdisziplin (vgl. den Werktag- und Sabbatrhythmus), Zuverlässigkeit und Loyalität (geprägt von den Zehn Geboten und einer starken Gemeindeidentität).

Ein umfassendes Tugendmodell

Auf der Suche nach einem umfassenden Tugendmodell, das alle wichtigen Bereiche einschließt, bin ich kürzlich auf den Begründer der Positiven Psychologie, Martin Seligman gestoßen. Mit seinen Kollegen Katherine Dahlsgaard und Christopher Peterson hat er die Tatsache entdeckt, dass in fast allen großen Philosophien und Religionen der Geschichte sechs Tugenden vorhanden sind: nämlich Weisheit, Gerechtigkeit, Mut, Maß (die vier klassischen, die schon Plato vertritt); dazu Menschenfreundlichkeit und Transzendenz (also die, die fast jede Religion und insbesondere das Christentum betont). Dazu haben diese Psychologen eine Liste von 24 Charakterstärken erstellt,[2] die mich begeistern, weil Elemente davon überall wiederzufinden sind: bei Konflikten unter Freunden, Fragen der Partnerwahl, in der Selbstreflexion, beim Versuch, andere Menschen zu verstehen, in Teamdynamiken, Gesprächen mit Gemeindegliedern … Ich stelle diese Liste daher hier an den Schluss und verbinde sie mit der Hoffnung, dass auch ihr als Leserinnen und Leser sie als Orientierung verwenden könnt – für die Arbeit an euch selbst, das Gebet um Wachstum und das Mitgefühl mit denen, die in manchen Bereichen noch einen weiten Weg vor sich haben.

Sechs Haupttugenden auf einen Blick:

  1. Weisheit – A: Kreativität, B: Neugier, C: Offenheit, D: Freude am Lernen, E: Durchblick
  2. Mut – F: Unerschrockenheit, G: Beharrlichkeit, H: Integrität, I: Vitalität
  3. Mitmenschlichkeit: J: Liebe, K: Güte, L: Soziale Intelligenz
  4. Gerechtigkeit– M: Zuverlässigkeit, N: Fairness, O: Führungsfähigkeit
  5. Maß – P: Vergebungsbereitschaft, Q: Demut, R: Besonnenheit, S: Selbststeuerung
  6. Transzendenz – T: Verständnis für Schönheit und Exzellenz, U: Dankbarkeit, V: Hoffnung, W: Humor, X: Spiritualität.

Text (Copyright): Stefan Höschele, Prof. für Systematische Theologie an der ThHF

[1] Eine Beschreibung des Forschungsprojekts findet sich auf meiner Webseite – www.stefan-hoeschele.de – Unterpunkt „Project: Adventist Ethics“.

[2] Details bei C. Peterson & M. Seligman: Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification. New York: Oxford University Press 2004.

Bild der THH Friedensau
Prof. Stefan Höschele forscht unter anderem zum Thema adventistische Ethik
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