Ein zartes Pflänzchen

23. Apr. 2020 / Campusleben

Warum es gut ist, während der Corona-Krise in Friedensau zu sein? Ich kann es euch sagen! Friedensau ist ein winziges Örtchen mitten im Wald. Es gibt nur eine „Hauptstraße“, und die mündet in einer Sackgasse. Damit ist Friedensau quasi „abgeschottet“ vom Rest der Welt – für mich eine kleine Oase, besonders in Zeiten der Krise. Natürlich schränken uns auch hier die Auflagen der Bunderegierung in unserem Alltag ein. Was ich mir jedoch immer wieder ins Gedächtnis rufe, ist, dass mich die Beschränkungen an anderen Orten weitaus schlimmer hätten treffen können.

Die knapp 500 Einwohner in Friedensau kennen sich und halten zusammen. Wenn ich nach der Arbeit auf meinem Fahrrad zwischen den Häusern hindurch und an den kleinen Schrebergärten vorbeifahre, fühle ich mich wie im Paradies. Der Frühling hat seine Spuren hinterlassen, überall grünt und blüht es, lauthals singen die Vögel, als würden sie mir sagen wollen: „Es gibt Hoffnung, auf Regen folgt Sonnenschein und bald wird alles wieder gut!“ Von meinem Fahrrad aus winke ich den Senioren zu, die jegliche Formen von Blumen und Gemüse in ihren Gärten anbauen und immerfort mit deren Pflege beschäftigt sind. Sie grüßen mich und schenken mir ein freundliches Lächeln. Es erfüllt mein Herz, ein Zeichen der Liebe und Mitmenschlichkeit trotz Distanz. Auf meinem Weg sehe ich ab und zu eine Hängematte zwischen den Bäumen. Manchmal ragt ein mir bekannter Kopf daraus hervor, manchmal sieht man nur die Umrisse, die sich deutlich durch den Stoff abzeichnen und darauf hindeuten, dass sich vermutlich gerade einer unserer Studierenden ein Nickerchen in der Mittagssonne gönnt.

Im Garten angekommen, versuche ich mich daran, die Beete nach der Winterpause wieder in Schuss zu bringen. Ich grabe meine Hände tief in den sandigen Erdboden und rieche den frischen Duft von Blumen, Gras und Erde. Nach der Arbeit hilft mir die Zeit im Garten, über den Tag zu reflektieren und meine Gedanken zu sortieren. Dankbarkeit erfüllt mich: Ich bin jung und gesund. Ich habe einen festen Arbeitsplatz und kann nach wie vor in meinem Büro arbeiten, ohne mit den Herausforderungen des Home-Office, mit Langeweile oder Kurzarbeit kämpfen zu müssen. Natürlich haben sich Abläufe, Strukturen und Aufgabenfelder geändert. Aber das versuche ich als Chance und Abwechslung zum sonstigen Arbeitsalltag zu sehen. Darüber hinaus bin dankbar für den technischen Fortschritt, der Meetings über Zoom und Kommunikation über E-Mail-Verkehr und Telefone möglich macht.

Auf der Arbeit geht man sich, so gut es eben geht, aus dem Weg. Ich wasche und desinfiziere meine Hände, bis sie rau sind und fast aufplatzen, aber ich weiß es zu schätzen, dass ich Zugang zu sauberem Wasser und Seife habe. Von meinen Kollegen im Studio höre ich, dass sie mehr mit der aktuellen Situation zu kämpfen haben, als ich. Durch den Ausfall der Veranstaltungen haben sie viel mit der Umsetzung von Alternativprogrammen über Livestreams im Internet zu tun. „Meine Arbeitsbelastung nimmt durch die Livestreams und die Produktion zusätzlicher Formate immer weiter zu. Trotzdem sehe ich diese Krise als Chance, über den Bildschirm Hoffnung und Optimismus zu den Menschen nach Hause zu bringen“, sagte mir unser brasilianischer Studio-Volontär Matheus, als ich ihn zu seiner aktuellen Arbeitssituation befrage.

Positiv denken und sich auf das Gute fokussieren. Das hilft, besonders jetzt. Diese Stimmung ergreift mich auch, wenn ich in meiner Mittagspause die Mensa aufsuche, die momentan ausschließlich für Angestellte der Hochschule und Studierende geöffnet hat. Die Tische stehen weit auseinander und wirken durch den einen, einsamen Stuhl, der an ihnen steht, unnatürlich gespenstisch. Ein Anblick, an den man sich mittlerweile irgendwie gewöhnt hat. Doch wenn sich um kurz nach eins die Einzeltische langsam füllen, beginnt etwas Faszinierendes: Die absurde Situation nehmen alle mit Humor, und so wird mehr gelacht als früher, der Umgang miteinander ist offener geworden und jeder kann sich ohne Probleme am gemeinsamen Gruppengespräch beteiligen. Denn da alle Tische weit auseinanderstehen und die Gespräche durch die Distanz einen gewissen Lautstärkegrad aufweisen müssen, kann sich auch jeder ins Gespräch einbringen.

Während ich das Unkraut aus dem Boden rupfe, bemerke ich, dass meine Gedanken weiterfliegen. Wie privilegiert wir hier doch sind und wie schön es ist, dass ich meine Freizeit im Garten verbringen kann. Dass ich vor die Türe treten kann, ohne Angst haben zu müssen, in überfüllten Gassen fremden Menschen zu nahe zu kommen, die mich möglicherweise mit dem Virus infizieren. Hier, in Friedensau, gibt es Freiheit trotz Corona. Es gibt Wald und Wiesen, wohin das Auge blickt, und genügend Möglichkeiten, ungestört draußen an der frischen Luft zu sein. Eine traumhafte Idylle, die nur durch das direkte Kontaktverbot getrübt wird. Aber auch damit kann ich leben. Denn endlich finde ich Ruhe, richtig aufzutanken, wieder mehr auf mein Inneres zu hören und nicht nur von einer Veranstaltung zur nächsten zu hetzen. Und so halte ich einen Augenblick inne, schließe meine Augen und lasse meine Nasenspitze von den ersten warmen Sonnenstrahlen kitzeln…

Natürlich geht es hier in Friedensau nicht allen so wie mir. Manche unserer Studierenden haben so viele Aufgaben erhalten, dass sie kaum noch hinterher­kommen. Andere müssen sich zusätzlich um ihre Kinder kümmern und wissen nicht, wie sie das Home-Schooling bewerkstelligen sollen. Und dann gibt es ja auch noch die Senioren, die nicht einfach nach draußen gehen können. Sie sitzen in ihren Zimmern und dürfen keinen Besuch empfangen. Aber genau hier können wir uns gegenseitig unterstützen. Wie Tobias Koch in seiner Andacht neulich sagte, können wir Hoffnungsträger sein und gerade in schweren Zeiten Liebe schenken. Wann hast du das letzte Mal einen Brief geschrieben oder jemandem ein Lied vorgesungen? Wem hast du das letzte Mal ein Lächeln geschenkt oder dein Ohr für die Sorgen und Nöte anderer geöffnet?

Wir alle können auf unterschiedliche Weise Liebe und Hoffnung schenken. Sie sind wie zarte Pflänzchen, die in den Herzen unserer Mitmenschen wachsen und Früchte tragen werden … und so drücke ich einen winzigen Blumensamen in die feuchte Erde und freue mich schon jetzt auf das Blümchen, das irgendwann daraus entstehen wird.

Maike Haase

Bild der THH Friedensau
Autorin des Blog-Beitrages: Maike Haase