Ein Brief und seine Folgen
28. Dez. 2022 / Wissenschaft & Forschung
Ein Brief und seine Folgen
Manchmal können Indiskretionen weitreichende Folgen haben. So geschehen mit einem Brief, den der damalige Schulleiter Dr. Wilhelm Michael vor 90 Jahren, am 21.12.1932, an seinen australischen Kollegen William W. Fletcher geschrieben hatte. Fletcher war zu diesem Zeitpunkt bereits durch seine Kritik an der Auffassung des damaligen GK-Präsidenten Branson zur Auslegung des himmlischen Heiligtums bekannt geworden. In dem Brief, dem wahrscheinlich weitere vorausgegangen waren, stellte Wilhelm Michael seine griechischen Textstudien zum Hebräerbrief vor, keinesfalls abgeschlossen, aber eine Diskussion unter Kollegen.
Dieser Brief war der Generalkonferenz irgendwie zugeleitet und in wenigen Wochen der Mitteleuropäischen Division übermittelt worden. Hier – so meinten die Verantwortungsträger – müsse sofort gehandelt werden. Im Protokoll der GiD (Gemeinschaft in Deutschland) vom Dienstag, 2. Mai 1933, 15 Uhr, ist festgehalten, dass nach dem Verlesen des Briefes der Beschluss gefasst wurde, „Dr. Michael für Mittwochfrüh 9 Uhr vor den Ausschuss zu laden, um ihn auf das Ungehörige seines Vorgehens, das mit seiner Stellung als Leiter unsrer Missionsschule nicht zu vereinbaren ist, aufmerksam zu machen und um von ihm eine schriftliche Erklärung seiner Einstellung zu den Grundsätzen unserer Gemeinschaft zu verlangen.“
Das Protokoll des nächsten Tages vermerkt als ersten Agenda-Punkt um 9 Uhr noch andere Themen. Es scheint demnach, als habe Dr. Michael es nicht geschafft, rechtzeitig von Friedensau nach Berlin zu kommen. Doch dann entlud sich das schwere Gewitter. Während der Gescholtene das Bekanntwerden des Schreibens als bedauerlich kommentierte, meinten die Ausschussmitglieder, dies sei eine Fügung Gottes, um die Gemeinschaft vor Schaden zu bewahren. Obwohl man ihm das Recht auf Briefwechsel nicht verwehren könne, nähme die Dienststelle doch für sich in Anspruch, ihre Zustimmung hätte geben zu müssen, zumal der Empfänger des Schreibens eine Person sei, „welche der Gemeinschaft entgegensteht“. Mit seinem Verhalten hätte Dr. Michael der vorgesetzten Dienststelle das Vertrauen entzogen, was nur als Vertrauensbruch gewertet werden könne. Deshalb müsse „in nicht ferner Zeit eine Entscheidung der Brüder in der Leitung des Werkes in Deutschland folgen“. Allerdings, und auch das vermerkt das Protokoll, habe „Dr. Michael … seine Handlungsweise als verkehrt“ erkannt „und bedauert sie deshalb aufrichtig.“
Es fällt auf, dass hier nur über die Verfahrensweise gesprochen wurde, nicht aber über die Inhalte. Wahrscheinlich waren die Ausschussmitglieder damit einfach überfordert. Um aber auch zu einer inhaltlichen Klärung zu kommen, stellten sie eine Aussprache in Aussicht und wollten die Angelegenheit bis dahin ruhen lassen. Doch dieses Versprechen erwies sich schon bald als Makulatur. Noch vor dem Sommer verlor Dr. Michael die Leitung des Predigerseminars in Friedensau, behielt aber die Verantwortung über die staatlich anerkannte Hauswirtschaftsschule. Doch schon im nächsten Jahr versetzte ihn die Mitteleuropäische Division als Lehrer an die Marienhöhe. Dem für Friedensau zuständigen Regierungspräsidenten in Magdeburg teilte er mit, dass er „wegen einer abweichenden Glaubensansicht [s]eines Amtes als Schulleiter enthoben“ worden sei. Eine solche Offenheit verwundert bei Dr. Michael, der ansonsten immer auf Ausgleich bedacht war. Aber die Kritik scheint ihn tief getroffen zu haben.
Von der in Aussicht gestellten Aussprache war schon bald keine Rede mehr. Das hatte nachvollziehbare Gründe. Einerseits handelte es sich bei Dr. Michael um keinen „Einzeltäter“. Mehrere Kollegen in Friedensau und auf der Marienhöhe und weitere Prediger waren in die Diskussion einbezogen gewesen. So hatte der Marienhöher Lehrer Hans Werner eine Schrift mit dem recht provokanten Titel „Eine Widerlegung der falschen Punkte in der Schrift: ›Das himmlische Heiligtum‹ (herausgegeben von W. H. Branson) mit der Heiligen Schrift“ herausgegeben und damit die Diskussion öffentlich gemacht und gleichzeitig die Autorität des GK-Präsidenten in Frage gestellt. Wahrscheinlich aus Sorge vor einer ausufernden Infragestellung zog man die Notbremse. Hier sollten keine weiteren schlafenden Hunde geweckt werden. Und dann dürfen wir den Zeitpunkt nicht aus den Augen verlieren: Anfang 1933 stand die Gemeinschaft vor schwerwiegenden Problemen:
Da war zum einen der Verlust des Patriarchen Ludwig R. Conradi, dessen Trennung von der Gemeinschaft im Jahr zuvor hohe Wellen im In- und Ausland geschlagen hatte. Seit dem Jahr 1886 war er es gewesen, der den Aufbau der Gemeinschaft in Mittel- und Osteuropa und in verschiedenen Missionsgebieten maßgeblich beeinflusst hatte. Conradi galt für viele als die unumstrittene Autorität, zumal er seit 1901 auch Vizepräsident der Generalkonferenz war. Zwar war er mit dem Erreichen der Altersgrenze von seiner Verantwortung als Präsident der Europäischen Division entbunden worden. Doch in den Reihen der Verantwortungsträger sprach man darüber, dass diese Degradierung eine Folge der während des Ersten Weltkrieges entstandenen Gegenbewegung sei, die er durch sein Verhalten befördert habe. So zumindest behaupteten es Stimmen, die schon lange darauf gewartet hatte, ihn vom Sockel zu stoßen. Doch dass er sich vollständig von der Gemeinschaft lösen und eine eigene Kirche, die Siebenten-Tags-Baptisten, in Deutschland aufbauen wollte, überstieg alle Befürchtungen. Dass er in seine Kritik auch die Heiligtumslehre mit einbezog, war aus seiner Perspektive nur folgerichtig. Jede neue Diskussion würde die Argumente von Conradi wieder in Umlauf bringen. Doch das sollte wenn möglich vermieden werden, denn seine Argumente gingen viel weiter als die Interpretationsvarianten von Wilhelm Michael.
Ein weiterer Grund lässt sich unschwer erahnen. Im Frühjahr 1933 überstürzten sich die politischen Ereignisse in Deutschland. Gerade unter den Freikirchen machte sich große Angst breit. Ihre vielfach anglo-amerikanische Herkunft stellte sie in die politische Ecke mit all denen, die als „artfremd“ zur germanischen Rasse dem Misstrauen und den Unterstellungen weiter nationaler Kreise ausgesetzt waren. Wer dazu noch den jüdischen Schabbat feierte, lief Gefahr, von Seiten der Propaganda des NS-Staates als „Neujuden“ verschrien zu werden. Jeder interne Streit, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen würde, könnte hier verhängnisvolle Auswirkungen haben.
Nicht unterschätzt werden darf auch die finanzielle Situation der Mitteleuropäischen Division im Frühjahr 1933. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise blieb auch die Gemeinschaft von den desaströsen Folgen nicht verschont. „Unproduktive“ Prediger wurden entlassen, das Gehalt der ohnehin schlecht bezahlten deutschen Prediger drastisch gekürzt; sie sollten die Verluste durch zusätzliche Buchevangelisation erwirtschaften. Es fehlte an Geld zur Unterstützung der weltweiten Missionsstationen. Zu allem Unglück verbot der deutsche Staat 1932 mit Devisenbeschränkungen die Ausfuhr von deutschem Geld. So konnten die zur Verfügung stehenden Mittel nicht einmal die Empfänger erreichen. Und zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Adventisten stagnierte die Gliederzahl. Ein ähnliches drastisches Szenario mit so weitreichenden Folgen hatte es bislang nicht gegeben. Als gäbe es nicht schon genügend Probleme, äußerte sich bereits im Frühjahr 1933 der Divisionsvorsteher Heinrich F. Schuberth, von seinem Amt zurücktreten zu wollen, was er dann folgerichtig im Herbst des Jahres vollzog.
Dass bei einer solchen Vielzahl von Problemen einerseits der Ausschuss so drastisch reagierte, andererseits aber in seinen Handlungsmöglichkeiten von den Zeitereignissen eingegrenzt war, erklärt den Mangel an Aufarbeitung der Fragen, die Wilhelm Michael und andere aufgeworfen hatten. Die Herausforderungen der Zeit ließen einfach keinen Spielraum für theologische Diskussionen. Eine Artikel-Reihe von Karl Pansegrau, die bereits seit Mitte 1932 in der Gemeindezeitschrift „Der Adventbote“ veröffentlicht wurde, sollte die Meinung des GK-Präsidenten untermauern. Das war alles.
Trotzdem standen die Fragen im Raum. An den jungen Neanderthaler Lehrer Ludwig Martin (der nach dem Zweiten Weltkrieg in Friedensau lehrte) schrieb W. Michael bereits im September 1932: „Betreffs der gerade in unserer Zeit so eingehend behandelten Heiligtumslehre kann die sprachliche Forschung die rechte Grundlage geben … Manche aber sehen darin eine Gefahr. Werden sie doch durch diese Ausführungen aus der menschlich so begreiflichen Trägheit aufgerüttelt.“ Wilhelm Michael wollte sich mit einer solchen Einstellung nicht zufriedengeben. Öffentlich sprach er nicht wieder über die Fragen der Heiligtumslehre. Doch sein Manuskript, das nie veröffentlicht wurde, blieb erhalten. Er schließt dort mit den Worten: „Die Weissagungen dürfen mit den Heilstatsachen nicht in Widerspruch stehen. Daher ist die gegenwärtige Auffassung von Dan. 8,14 nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die in der vorliegenden Arbeit gebrachte Deutung dieser Stelle entspricht a. den Grundbegriffen der Sprache und b. dem Sinn des Zusammenhanges. Bei der in dieser Arbeit aufgestellten Lehre vom himmlischen Heiligtum behält die Adventbotschaft ihre volle Bedeutung. Wenn nicht alles täuscht, hat sie sogar einen klareren Ton als die frühere, die wegen der vielen Spitzfindigkeiten und Sprachvergewaltigungen manchem Gläubigen zu schaffen gemacht hat.“
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, nachdem der Friedensauer Schulleiter Walther Eberhardt zur Wehrmacht einberufen worden war, erhielt Dr. Michael erneut einen Ruf nach Friedensau. Man brauchte ihn, um in den kommenden Krisenjahren eine Persönlichkeit an der Spitze des Missionsseminars zu wissen, der in der Lage war, Probleme zu bewältigen. Sicher galt die erneute Berufung auch als eine gewisse Wiedergutmachung für die Entscheidungen, die ihn im Zusammenhang mit der Indiskretion von 1932 verletzt hatten.
Und vielleicht ist es auch an der Zeit, den Inhalt seiner Forschungen einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Interessant ist, wie die digitale Encyclopedia of Seventh-day Adventists (ESDA) über William W. Fletcher 90 Jahre später urteilt: „Im Grunde war Fletcher ein evangelikaler Adventist, der in mancher Hinsicht seiner Zeit voraus war, und obwohl viele seiner Ansichten immer noch nicht mit der Theologie der Siebenten-Tags-Adventisten übereinstimmen, hat die neuere Forschung ein umfassenderes Verständnis der Fragen, die Fletcher beschäftigten, und eine fundiertere Begründung geliefert, als sie in den 1930er Jahren verfügbar war.“
Dr. Johannes Hartlapp, Dozent für Kirchengeschichte und Studiengangsleiter BA Theologie an der ThHF
(Der Blogbeitrag ist in gekürzter Form erschienen in der hochschuleigenen Zeitung „Unser Friedensau“, Ausgabe 2/2022).