Neue Forschungsergebnisse zu adventistischen Märtyrern

28. Jan.. 2025 / Wissenschaft & Forschung

Zum Gedenken an das Kriegsende vor 80 Jahren

Es ist 20 Jahre her, dass im Sommer 2005 eines der interessantesten Archive in Deutschland seine Tore für die Forschung öffnete: die „Arolsen-Archives“ – das Internationale Zentrum für NS-Verfolgung. Es hieß damals noch Internationaler Suchdienst (International Tracing Service, ITS). Hier lagern die erhalten gebliebenen Unterlagen der Konzentrationslager und Gefängnisse der NS-Zeit, aber auch persönliche Gegenstände der Inhaftierten. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört seit Juni 2013 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Neben den Dokumenten der verschiedenen Opfergruppen des NS-Regimes finden sich auch Verzeichnisse zur Zwangsarbeit sowie zu Displaced Persons und zur Migration nach 1945.

Wegen der Schutzbestimmungen war es bis 2005 nur Angehörigen der Opfer und staatlichen Stellen möglich, Informationen über die Unterlagen in Bad Arolsen zu erhalten. Für mich war es eine Sternstunde meiner Forschung, dass ich 2005 einer der Ersten war, für den sich die Tore des ITS öffneten und dem die Leiterin der Einrichtung anbot, selbst Original-Unterlagen einsehen zu dürfen. Ich entschied mich damals für das Buch der Zu- und Abgänge von Flossenbürg, dem KZ in Bayern, in dem Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 umgebracht wurde. Mein Herz klopfte regelrecht, als ich die Seiten des mit deutscher Bürokratie geführten Buches durchblätterte, um die Eintragungen des 9. Aprils 1945 zu finden. Leider ist Bonhoeffer dort nicht verzeichnet, weil er – zusammen mit anderen prominenten, persönlichen Gefangenen Adolf Hitlers – erst wenige Stunden vor seiner Hinrichtung den Ort erreichte und nie als Insasse des Konzentrationslagers Flossenbürg geführt wurde.

Dafür wurde ich bei einem anderen Namen fündig – Manfred Wachenheimer. Dieser Leipziger Adventist war wegen „unerlaubter religiöser Betätigung“ am 4. Juni 1942 ins KZ Buchenwald eingeliefert und bereits einen Monat später, am 4. Juli 1942 ermordet worden. Neben der Eintragung in das Verzeichnis der täglichen Zu- und Abgänge des Lagers Buchenwald existieren die Karteikarten mit der detailliert aufgelisteten Angabe aller Kleidungsstücke und Gegenstände, die er bei seiner Einlieferung mitgebracht hatte – deutsche Gründlichkeit sogar beim Vernichten! Was mich bei den täglichen Eintragungen allerdings vielmehr verwunderte, war eine kurze Bemerkung seines religiösen Bekenntnisses. Jeder Häftling hatte bei der Einlieferung seine religiöse Zugehörigkeit anzugeben. Und so finden sich die gebräuchlichen Abkürzungen wie „evang.-luth.“ oder „röm.-kath.“, genauso wie „gg“ als Beschreibung für „gottgläubig“. Als gottgläubig galt in der NS-Zeit, wer sich von den anerkannten Religionsgemeinschaften abgewandt hatte, jedoch nicht glaubenslos war. Es ließen sich noch zwei oder drei weitere Abkürzungen für Religionsgemeinschaften finden. Bei manchen Namen fehlte auch die religiöse Zugehörigkeit.

Für das religiöse Bekenntnis von Manfred Wachenheimer wurde die Abkürzung „adv.“ verwendet. Die Erklärung ist für mich eindeutig. Manfred Wachenheimer war Adventist. Das erstaunte mich nicht. Was meine Aufmerksamkeit erregte, war aber der Umstand, dass für ihn überhaupt eine Abkürzung verwendet wurde. Normalerweise gebrauchen wir Abkürzungen nur dann, wenn es sich um einen Sachverhalt handelt, der nicht singulär ist. Wenn also dort eine Abkürzung für Adventisten verwendet wurde, mussten sich noch weitere Gemeindeglieder finden lassen, deren Schicksal bislang wohl verborgen geblieben war. Und genau das ergab sich bei einer ersten Suche. Namen von Adventisten, von denen ich nie in diesem Zusammenhang gelesen oder gehört hatte. Leider findet sich keine Bemerkung, zu welcher Gemeinde sie gehörten, und auch die Angabe des Geburtsdatums bzw. -ortes ist in vielen Fällen kein eindeutiger Indikator, weil fast keine Gemeindelisten mehr aus der NS-Zeit existieren.

Unser kollektives Bewusstsein als deutsche Adventgemeinden beschränkt sich nach meiner Erfahrung im Wesentlichen auf weniger als eine Handvoll Personen, die als Märtyrer bekannt sind. Doch das scheint bei weitem nicht das Ende der Fahnenstange zu sein. Adventistische Märtyrer besitzen bis heute leider keine Lobby, zumal ihr Verhalten und ihr Mut zumindest indirekt die Haltung derer in Frage stellte, die aus Angst oder einfach Anpassung geschwiegen haben; vielleicht wollten sie auch einfach nur irgendwie durchkommen. Da sprengen die Ausnahmen das ansonsten so harmonische Bild. Obwohl heute fast niemand mehr lebt, der zu Kriegsende die Volljährigkeit erreicht hatte, bleibt der Mantel des Schweigens weitgehend über den adventistischen Märtyrern gebreitet. Das haben sie nicht verdient! Im Gegenteil, wir schulden ihnen Dank und Anerkennung für ihren Mut, zum Beispiel dazu, die erzwungene Arbeit am Sabbat abzulehnen und alle Konsequenzen dafür zu tragen.

Auch die jüdischen Gemeindeglieder konnten nicht uneingeschränkt auf die Hilfe und Unterstützung ihrer deutschen Schwestern und Brüder hoffen. Einigen wurde nahegelegt, die Gemeinde nicht mehr zu besuchen und auch beim Abendmahl nicht zu erscheinen. Andere wieder berichteten, dass es ihnen guttat, dass Personen wie der Vorsteher des Süddeutschen Verbandes, Gustav Seng, oder die Prediger Otto Gmehling und Hermann Kobs uneingeschränkt zu ihnen standen und sie auch zu Hause besuchten. Das Spektrum war hier so vielfältig wie es nur sein kann, mehrheitlich allerdings – so meine Wahrnehmung nach Interviews mit Überlebenden – bildete auch im Umgang mit ihnen die Angst das Grundmotiv vieler Entscheidungen.

Heute gehen Historiker davon aus, dass nach den Zeugen Jehovas und katholischen Priestern, Adventisten die drittgrößte Gruppe religiöser Opfer in der NS-Zeit darstellen, wovon der größere Teil wahrscheinlich der „Reformbewegung“ angehörte. Es bleibt noch viel zu tun, um ihre Schicksale bekannt zu machen und ins Bewusstsein zu rufen. Wir sind es ihnen schuldig (Text und Bild: Dr. Johannes Hartlapp).

Bild der THH Friedensau
Originaldokument aus den Arolsen Archives, dem Internationalen Zentrum für NS-Verfolgung
Bildrechte: Dr. Johannes Hartlapp