Corona – eine Bedrohung der Religionsfreiheit?

29. Nov. 2021 / Wissenschaft & Forschung

Corona – eine Bedrohung der Religionsfreiheit?

Hinter der Überschrift steht ein Fragezeichen.[1] „Corona – eine Bedrohung für die Religionsfreiheit?“ Ich möchte mich fragend der Thematik nähern und nicht vorschnell eine Antwort geben.

Was ist an staatlichen Eingriffen, und zwar in Deutschland, passiert, die sich direkt gegen die Religionsausübung richten oder diese zumindest berühren? Es geht nicht allgemein um die Frage: „Muss ich mich impfen lassen?“ – oder: „Sollen die Corona-Maßnahmen endlich aufgehoben werden?“ Ich möchte zunächst auf Maßnahmen eingehen, die von vornherein eine religiöse Komponente tragen.

Beschränkung von Gottesdiensten und Kontakten im kirchlichen Zusammenhang

Die Beschränkung von Gottesdiensten und Kontakten im kirchlichen Zusammenhang haben in der Frühphase der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 drastisch in das kirchliche Leben eingegriffen. Das Abhalten von Gottesdiensten wurde in den Corona-Verordnungen der Bundesländer zumeist strikt untersagt.[2] Einen anderen Weg ist allerdings damals Nordrhein-Westfalen gegangen. Dort war in der Corona-Schutzverordnung festgehalten: „Versammlungen zur Religionsausübung unterbleiben; Kirchen, Islam-Verbände und jüdische Verbände haben entsprechende Erklärungen abgegeben“.[3] Damit sollte dem besonderen Stellenwert der Religionsfreiheit Rechnung getragen werden, indem die Kirchen selbst sich in Absprache mit der Landesregierung entschieden, keine Gottesdienste abzuhalten. Es ist mir durch Nachfrage bekannt geworden, dass seitens der Staatskanzlei von NRW seinerzeit auch im Büro der Leitung der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten angerufen wurde, um die Situation zu erörtern. Derartiges ist nach meiner Kenntnis in keinem anderen Bundesland in Bezug auf unsere Freikirche vorgekommen. In den Medien ist zwar erwähnt worden, dass die Auflagen für Gottesdienste mit „den Kirchen“ abgestimmt seien. Gemeint sind damit offenbar die großen Volkskirchen, nämlich die EKD-Kirchen und die Römisch-katholische Kirche. Dass die Bundesländer sich bei der Abfassung ihrer Corona-Schutz-Verordnungen um die Belange von Freikirchen gekümmert hätten, dürfte nur ausnahmsweise vorgekommen sein. Dabei sind die Freikirchen von Anfang an stark betroffen gewesen. Im Gegensatz zu den großen Kirchen haben sie zumeist kleine Gebäude und gleichzeitig eine verhältnismäßig hohe Zahl von Gläubigen, die darin regelmäßig an Gottesdiensten teilnehmen.

Die Einschränkungen der Gottesdienste sind nach Verstreichen einer gewissen Schockstarre gerichtlich verschiedentlich angegriffen worden. Zeitlich spielten im Frühjahr 2020 die anstehenden Ostertage eine Rolle, wodurch die Absage von religiösen Feierlichkeiten besonders schmerzlich aufgefasst wurde. Die Religionsfreiheit und damit die Freiheit, den Glauben ausleben und sich zu Gottesdiensten versammeln zu können, ist in Deutschland durch Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes geschützt.[4] Im Text ist eine Einschränkbarkeit durch ein Gesetz nicht vorgesehen – anders als bei manchen anderen Grundrechten.[5] Dies bedeutet aber nicht, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit schrankenlos gilt. Es findet seine Grenze in kollidierenden Grundrechten Dritter sowie in Rechtsgütern mit Verfassungsrang.[6] So ist zum Beispiel die Untersagung eines Ostergottesdienstes 2020 verwaltungsgerichtlich bestätigt worden. Die Begründung lautete, dass der durch die zeitlich eng befristete Verordnung bezweckte Schutz von überragend wichtigen Grundrechten Dritter, nämlich deren Gesundheit, die Beschränkung der Glaubensfreiheit nach summarischer Prüfung rechtfertige und nicht unverhältnismäßig sei.[7] Das Bundesverfassungsgericht hat hingegen in einem Fall der Schließung von Moscheen während des Fastenmonats Ramadan ein generelles Verbot von Gottesdiensten ohne die Möglichkeit, im Einzelfall Ausnahmen unter Auflagen zulassen zu können, nicht für verfassungsgemäß erachtet.[8] Während zunächst die Generalklausel aus § 28 des Bundesinfektionsschutzgesetzes als Ermächtigung für administrative Entscheidungen der Länderbehörden ausreichen musste („… so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen…“), hat man in der Politik erkannt, dass diese unbestimmte Grundlage im Hinblick auf die in Rede stehenden gewichtigen Freiheitseingriffe den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht wirklich entsprochen habe. Der im November 2020 geschaffene § 28 a im Bundesinfektionsschutzgesetz, der bei Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag gilt, enthält daher einen Maßnahmenkatalog, in dem Einschränkungen enumerativ aufgezählt sind. In dieser Regelung wird übrigens die Untersagung von religiösen und weltanschaulichen Zusammenkünften nur für den Fall zugelassen, dass anders eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen erheblich gefährdet wäre. Durch die insoweit angeordnete besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung in Bezug auf religiöse und weltanschauliche Veranstaltungen wird dem hohen Wert der Religionsfreiheit Rechnung getragen. Als es bei der Bund-Länder-Konferenz im August 2021 darum ging, die 3-G-Regelung, also den öffentlichen Zutritt zu Innenräumen nur für Geimpfte, Genesene und Getestete, zu erlauben, war ursprünglich daran gedacht worden, dies auch für Gottesdienste vorzuschreiben. Davon hat man in dem Beschluss vom 10.8.2021 jedoch Abstand genommen.[9] Religiöse Veranstaltungen wurden dort nicht erwähnt und folgerichtig auch in den diesem Beschluss nachfolgenden Aktualisierungen der Länderverordnungen aus den 3-G-Verpflichtungen herausgelassen. In einigen Verordnungen wurden optionale 2-G-Modelle (also nur Geimpfte und Genesene haben Zutritt) auch für Kirchen ermöglicht, mit der Folge, dass dann geringere Hygieneauflagen gelten.[10] Aufgrund der katastrophalen Entwicklung der Infektionszahlen seit November 2021 ist allerdings eine neue Lage eingetreten, zumal seitens der Politik die Feststellung der epidemischen Notlage nicht verlängert wurde. Damit trat die Problematik auf, dass diese Rechtsgrundlage für dringend notwendige Maßnahmen wegfiel und durch neue, in das Bundesinfektionsschutzgesetz aufgenommene Regeln ersetzt werden musste. Mit Bund-Länder-Beschluss vom 18.11.2021[11] ist die flächendeckende Ausweitung der 2-G-Regel für Veranstaltungen vereinbart worden. Mittlerweile sind die Länderverordnungen angepasst. Gottesdienste sind jedoch nirgendwo – anders als noch zu Beginn der Pandemie – untersagt. Rheinland-Pfalz, Thüringen und Sachsen schreiben allerdings für Gottesdienste nun verpflichtend die 3-G-Regel vor.[12] Die Frage, ob es sachgerecht ist, für Gottesdienste die 3-G-Regel verbindlich anzuordnen, ist nicht einfach zu beantworten.[13] Zu berücksichtigen ist, dass es sich bei der Teilnahme an einem Gottesdienst für viele Gläubige um einen Vorgang der spirituellen Grundversorgung handelt, der nicht einfach nach Belieben weggelassen werden kann. Dies wird von manchen nicht verstanden, insbesondere von solchen, die Gottesdienste nur selten oder gar nicht aufsuchen. Aus Sicht der Religionsfreiheit ist es daher wichtig, dass die Schwelle für einen Gottesdienstbesuch möglichst niedrig gehalten wird, was gegen eine staatlich angeordnete 3-G-Regel spricht. Andererseits wird man sich unter dem Eindruck der nach oben schnellenden Infektionszahlen Forderungen nach erhöhtem Schutz auch während religiöser Veranstaltungen nicht verschließen können. Teilweise wird die Möglichkeit zum Selbsttest unter Aufsicht vor Beginn des Gottesdienstes angeboten, sodass dann die Hürde wegfällt, ein Testzentrum aufsuchen zu müssen. Problematisch wäre allerdings die staatliche Anordnung einer verbindlichen 2-G-Regel für Gottesdienste, weil dann diejenigen ausgeschlossen wären, die aus unterschiedlichen Gründen nicht geimpft sind. Sie könnten bis auf Weiteres an keinem Präsenzgottesdienst mehr teilnehmen, unabhängig davon, wie effektiv das Hygienekonzept ausgestaltet ist. Eine solche Maßnahme dürfte einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen und ist daher abzulehnen. Anders ist es zu beurteilen, wenn religiöse Veranstaltungen zusätzlich zum Hauptgottesdienst angeboten werden und hierfür von der 2-G-Regel auf freiwilliger Grundlage Gebrauch gemacht wird, durch Entscheidung der örtlichen Kirchengemeinde. Dies mag im Hinblick auf solche Gemeindeglieder sinnvoll sein, die aus Angst vor Infektionen schon länger nicht in die für alle offenen Veranstaltungen kommen.

Eingriffe in die persönliche Religionsfreiheit durch verpflichtend angeordnete Maßnahmen

Jetzt müssen wir noch darüber nachdenken, ob durch die Auferlegung von staatlichen Maßnahmen, die keine religiöse Zielrichtung haben und für alle gelten, die Glaubensfreiheit von einigen verletzt sein kann. Abstandsregeln sowie Masken- und Testpflicht dürften hier wegen der geringen Eingriffsintensität kaum als etwas in Betracht kommen, das die Glaubens- und Gewissensfreiheit einschränkt. Wie sieht es aber im Fall einer Impfpflicht aus? Während in Deutschland eine Impfpflicht relativ lange parteiübergreifend abgelehnt wurde, ändert sich dies nun, nachdem die Infektionszahlen dramatisch angestiegen sind bei nicht ausreichender Impfquote. Immer mehr wird eine Impfpflicht gefordert – zunächst für bestimmte Einrichtungen mit vulnerablen Personen, aber darüber hinaus auch die allgemeine Impfpflicht. Darin würde zweifelsohne ein starker Eingriff in die körperliche Unversehrtheit liegen, die ja durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützt ist. Besondere Verhältnismäßigkeitserwägungen müssten eine derartige Maßnahme rechtfertigen. Die Frage ist, ob man sich außerdem auch auf die in Art. 4 GG gewährleistete Religionsfreiheit berufen könnte, um einer Impfpflicht zu entgehen. Bislang ist dieser Fall in Deutschland noch nicht aufgetreten, weil es bisher keine gesetzliche Covid-Impfpflicht gibt. Grundsätzlich ist aber zu sagen, dass Art. 4 GG nur dann thematisch berührt wäre, wenn der fragliche Eingriff gegen eine Überzeugung gerichtet ist, die durch Art. 4 GG geschützt ist. Darunter fallen persönliche Glaubensüberzeugungen, die sich einer Religion plausibel zuordnen lassen. So ist zum Beispiel in den „Kopftuch“-Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht[14] der Schutzbereich des Art. 4 GG für die betroffenen Kopftuchträgerinnen bejaht worden, selbst wenn es im Islam auch Auffassungen gibt, die das Kopftuch nicht als verbindlich ansehen. Es genügte, dass die Klägerinnen selbst die Kopftuchpflicht für sich bejahten und diese Position durch Anschauungen innerhalb des Islam gestützt werden konnten. Nicht geschützt durch Art. 4 GG sind jedoch Sonderauffassungen Einzelner, die sich mit keiner existierenden religiösen Gruppierung in Verbindung bringen lassen. Man kann also nicht die eigene persönliche Ablehnung staatlicher Maßnahmen unter dem Deckmantel der Religion in den Schutzbereich des Grundgesetzes einbeziehen. Bei der Frage der Covid-Impfung muss man differenzieren. Viele Impfgegner dürften in ihrer Haltung durch Ängste vor Nebenwirkungen geleitet sein. Eine derartige Motivation ist nur schwerlich der Religionsausübung zuzuordnen. Auch eine generell misstrauische Haltung gegenüber staatlichem Handeln ist keine durch Art.4 GG geschützte Gewissensposition. Anders sieht es aus, wenn theologisch argumentiert wird. Wer die biblische Apokalypse in einer Weise interpretiert, dass der Empfang einer Impfung mit Phänomenen aus dem Reich des Bösen verbunden wird, steht mittlerweile nicht völlig allein da. Greift hier schon der Schutz des Art. 4 GG? Im katholischen Lager sind Bedenken geäußert worden, sofern für die Entwicklung der Impfstoffe die Zelllinien abgetriebener Embryonen verwendet werden, auch wenn sie im Impfstoff selbst nicht vorhanden sind.[15] Diese Position entspricht jedoch nicht der katholischen Mehrheitsmeinung und auch nicht der Linie des Papstes. Trotzdem wird man eine derartige Haltung wohl dem Schutzbereich des Art. 4 GG zuordnen müssen. Dass der Schutzbereich berührt wird, heißt aber juristisch noch nicht, dass das Grundrecht auch bereits verletzt ist. Wie bereits erwähnt, gibt es grundrechtsimmanente Schranken der Religionsfreiheit, die hier in der Gesundheit anderer und der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitssystems zu sehen sind. Diese Rechtsgüter würden von Gerichten gegenüber dem Eingriff in die persönliche Religionsfreiheit im Fall einer Impfpflicht abgewogen. Es ist noch nicht abzusehen, wie in derartigen Rechtsstreitigkeiten in Deutschland entschieden und welche Position den Vorrang erhalten würde. Eine Rolle wird dabei spielen, wie stark die Eingriffswirkung eines Impfzwangs auf die Religionsausübung des Einzelnen zu sehen ist im Verhältnis zur Gefahr, die bei Außerkraftsetzung der Impfpflicht für andere entstehen würde. Hier müssen auch die Rahmenbedingungen berücksichtigt werden, insbesondere die bereits erreichte Impfquote und die damit verknüpfte Bedeutung einer Impfpflicht für den weiteren Verlauf der Pandemie.

Bei Initiativen, die sich aus religiösen Gründen gegen weltweite Impfmaßnahmen wenden und darin eine starke Bedrohung für Gläubige sehen,[16] muss deren Herkunft betrachtet werden, um sie verstehen zu können. Kommen sie aus den USA, sind sie geprägt durch die dortigen verfassungsmäßigen Gegebenheiten. In den USA sind staatliche Eingriffe in religiöse Belange von der Verfassung untersagt. Die dort bereits teilweise eingeführte Impfpflicht stößt auf starke Skepsis vor allem weißer Protestanten, die häufig streng individualistisch denken und sich gegen staatliche Vorgaben für ihre persönlichen Entscheidungen wehren. In den USA gibt es schon seit Langem im Arbeitsrecht die Instrumente der religious exemption und reasonable accomodation. Arbeitnehmer, die an der Arbeitsstelle Probleme mit religiöser Diskriminierung haben (z.B. wegen Kleidungsvorschriften oder Ruhetagen), müssen darlegen, dass ihre Haltung auf einer ernsthaften Glaubensüberzeugung beruht. Der Arbeitgeber ist dann verpflichtet, eine Ausweichlösung anzubieten, solange das keine unangemessene Härte für ihn bedeutet (undue hardship).[17] Ein derartiger Mechanismus hat sich mittlerweile auch in der Frage der Pflichtimpfungen etabliert.[18] Im Internet werden im Zusammenhang mit der staatlichen Impfkampagne Formulare angeboten, wo man eintragen kann, ob man eine religiöse Ausnahme beantragen möchte.[19] Diese muss dann allerdings näher begründet werden. Manche Glaubensgemeinschaften haben hierzu bereits theologische Standarderklärungen vorbereitet,[20] die ihre Mitglieder benutzen können. Es ist damit etwas völlig Normales, davon Gebrauch zu machen, wenn es auch keineswegs immer erfolgreich sein wird. Ein derartiges Vorgehen gibt es in Deutschland nicht und ist auch für den Fall einer Impfpflicht nicht zu erwarten. Religiös begründete Ausnahmeregelungen sind hierzulande häufig nur in mühsamen Auseinandersetzungen für die Betroffenen zu erreichen, wie mir aus meiner ehrenamtlichen Beratungstätigkeit im Rahmen der Deutschen Vereinigung für Religionsfreiheit e.V.[21] selbst hinlänglich bekannt ist.

Innerkirchliche Spaltungen als Gefahr für die Religionsfreiheit

Von den großen Kirchen hat sich Papst Franziskus klar für Impfungen als Akt der Liebe „für sich, für seine Familie und Freunde, sowie für alle Völker“ ausgesprochen.[22] Es besteht Impfpflicht für Angestellte des Vatikans. Vorbehalte gegenüber bestimmten Impfstoffen hat der Papst nicht geäußert. Der seinerzeitige EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm hat im September 2021 Erwachsene zur Impfung aufgerufen, insbesondere wegen möglicher schwerer Covid-Verläufe bei damals noch nicht impfberechtigten Kindern. Bedford-Strohm wandte sich gegen einen Impfzwang. Anstatt Unwillige und bisher Unentschlossene auszugrenzen, müsse ihnen mit Respekt begegnet werden. Es sei zu verhindern, dass sie sich in eine Ecke gedrängt fühlen und grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Staat entwickeln. Auch dürften sie nicht in die Arme von Rechtsradikalen und Verschwörungstheoretiker getrieben werden[23]. Die Generalkonferenz der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in den USA hat sich mit einer Erklärung vom 18.12.2020[24] offen für Impfungen gezeigt und die Hoffnung ausgedrückt, dass dadurch der Pandemie Einhalt geboten werden könne. Gleichzeitig hat sie deutlich gemacht, dass sie die individuelle Entscheidung ihrer Mitglieder respektiere. Es handele sich nicht um eine dogmatische Frage. Diese Position hat sie am 25.10.2021 aufrechterhalten.[25] Trotz dieser Stellungnahmen aus der Leitungsebene der Kirchen wird eine gewisse Zahl von Mitgliedern nicht erreicht werden, wenn es um die Frage „Impfen oder Nicht-Impfen?“ geht. Unter dem Eindruck der sich zuspitzenden Infektionslage ist mittlerweile das Lager der Impfgegner kleiner geworden. Dies hängt in Deutschland wie im übrigen Europa auch mit den vom Staat entfalteten Verschärfungen zusammen, wodurch Nichtgeimpften die gesellschaftliche Teilhabe sehr erschwert und teilweise unmöglich gemacht wird. Es werden sich aber weiterhin bestimmte Menschen gegen eine Impfung entscheiden und im Fall einer Impfpflicht dagegen aufstehen. Wie gehen wir innerhalb der Kirchen mit dieser Spaltung um, die ja auch die Gesellschaft als Ganzes erfasst hat? Zwang und Ausgrenzung wäre hier der falsche Weg. Die Herausforderung ist, diesen Zustand auszuhalten, ohne dass es zum Bruch in den Gemeinden kommt. Verbale Abrüstung ist notwendig sowie der Verzicht auf „Bekehrungsversuche“. Erfahrungsgemäß wird die gegenseitige Verständigung dadurch erschwert, dass Fakten und naturwissenschaftliche Zusammenhänge unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet werden. Es fehlt deshalb für Gespräche häufig schon die gemeinsame Ausgangsbasis, sodass es nicht möglich ist, zu einem von Übereinstimmung getragenen Ergebnis zu kommen. Nicht immer kann der Auseinandersetzung ausgewichen werden, da auch administrative Entscheidungen zum Beispiel über Zugangsregelungen und Hygienekonzepte getroffen werden müssen.

Festzuhalten bleibt, dass trotz der bestehenden Differenzen die Bereitschaft zum Gespräch offengehalten werden sollte. Rechthaberei und Stimmungsmache sind hier fehl am Platz. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Gefahren, die durch die Unfähigkeit zum mitmenschlichen Umgang entstehen, nicht mächtiger werden als die Einschränkungen, die sich für das kirchliche Leben aus den staatlicherseits angeordneten Maßnahmen ergeben.

Harald Mueller, 28.11.2021

Der vollständige Text mit allen Fußnoten findet sich auf der Seite des Instituts für Religionsfreiheit.

Bild der THH Friedensau
Dr. jur. Harald Mueller, Leiter des Instituts für Religionsfreiheit