Konferenzen in Friedensau

29. Jul. 2022 / Wissenschaft & Forschung

Konferenzen in Friedensau

Im 19. Jahrhundert bürgerte sich in Europa ein Wort ein, das früher nur den Kreisen Gelehrter vorbehalten geblieben war, die – wenn sie sich zum wissenschaftlichen oder erbaulichen Austausch trafen – von einer conferentia sprachen. Doch seitdem das Bürgertum seinen Platz in der Gesellschaft erobert hatte, gab es landauf landab Konferenzen. Sofern man sich in der Sommerfrische traf und in Zelten zu übernachten bereit war, hießen die Konferenzen auch Lagerversammlungen. Bei hoffentlich schönem Wetter genossen Jüngere und Ältere die Gemeinschaft, hörten Vorträgen zu und sangen und beteten gemeinsam. Manche dieser Konferenzen wurden zu einer bis heute andauernden Tradition, wie zum Beispiel die Allianzkonferenzen im thüringischen Bad Blankenburg. Die dort gesungenen neuen Lieder, wie die von Ernst Gebhardt, inspirierten unsere Mütter und Väter so sehr, dass nicht wenige seiner Lieder in das erste deutsche Zions-Liederbuch aufgenommen wurden.

Von daher verwundert es nicht, dass auch Adventisten Konferenzen veranstalteten. Dahinter steht – wie bei den meisten Entscheidungen der frühen deutschen Adventgemeinden – Ludwig Richard Conradi. Er hatte sehr schnell erkannt, wie sehr neben der Verkündigung des Evangeliums durch Buchevangelisten, bei Bibelstunden und Evangelisationen eine intensive Gemeinschaftspflege notwendig war. Nicht umsonst hatte er von den lutherischen Gemeinschafts- und Missionsbewegungen des 19. Jahrhunderts, den Namen „Gemeinschaft“ der Siebenten-Tags-Adventisten übernommen und gleichzeitig das dahinterstehende Konzept. Wer alte Ausgaben der damaligen Gemeinde-Zeitschrift „Zions-Wächter“ aufmerksam durchblättert, wird davon überrascht sein, wie viele Konferenzen es in jedem Jahr gab. Das förderte die Gemeinschaft, ließ Gemeinden näher zusammenwachsen, brachte kleinen Gemeinden das Gefühl der großen Kirchenfamilie und – nicht zuletzt – waren fast auf jeder Konferenz auch Missionare auf Heimaturlaub oder Missionskrankenschwestern anwesend, die mit ihren Berichten die Sicht auf eine praktische Seite des Christseins lenkte.

Im Juli 1899 trafen sich auf einer Konferenz in Magdeburg die Vertreter der Deutschen Vereinigung und beschlossen den Kauf Klappermühle, die sie bald nach dem Kauf in „Friedensau“ umbenannten. Schon ein Jahr später fand in hier die erste Lagerversammlung aller Adventisten aus Mitteleuropa statt. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges wurde daraus eine jährliche Tradition. Weil auch Gäste aus dem Ausland und der Generalkonferenz teilnahmen, nutzte man das Angenehme mit dem Notwendigen und ließ häufig zeitgleich Ausschüsse verschiedener Gremien tagen, so 1911 eine Sitzung des General-Konferenz-Ausschusses unter Leitung von GK-Präsident Arthur Daniells. Dass in einem solchen Zusammenhang auch schon einmal eine Ausschuss-Sitzung des Divisionsausschusses im Wartesaal des Burger Bahnhofes abgehalten wurde, lässt uns schmunzeln, zeigt aber zugleich den Pragmatismus der Verantwortungsträger.

Eine Erinnerung an die Konferenzen von damals hat sich bis heute als sichtbares Zeichen der Verbundenheit deutscher Adventisten mit Friedensau erhalten. Zur Konferenz im Sommer 1904 wurden die Gäste gebeten:

»Ich glaube, ein jeder ist gern bereit, etwas zur Ausschmückung des Ortes beizutragen, wo bisher sein Volk alljährlich aus allen Orten unsres Unions-Missionsfeldes zusammenkam, um den Herrn zu suchen, und der Herr war so gnädig, uns nicht ungesegnet von dannen ziehen zu lassen. So ist auch dieses Jahr wiederum die Zeit gekommen, wo die schönen Tage des Gebetszusammenseins vor der Tür sind, und so wollte ich die lieben Geschwister bitten, etwas zur Ausschmückung der Sanatoriums-Parkanlagen beizutragen. Wir haben in der Parkanlage seit der letzten Konferenz bis heute verschiedene Plätzchen verschönert, indem wir von in der Gemarkung Friedensau aufgefundenen Steinen ›Felsen-Grotten‹ herstellten, um so unserer Landschaft ein besseres Bild zu geben und unsere lieben Patienten dadurch zu erfreuen, und so hatte ich gedacht, wenn ich Euch, liebe Geschwister im Herrn, bitten dürfte, mir zu helfen und aus Euren heimatlichen Umgebungen schöne Natursteine, seien es kleine oder große bei Euren Spaziergängen zu sammeln und zur Konferenz mitzubringen (Zions-Wächter, Band 10, 4. Juli 1904, S. 134).«

Und die anreisenden Gäste brachten Steine in ihrem Gepäck mit! Als Zeichen der Verbundenheit und Solidarität. Daraus entstand die Fassade der Grotte im Park, die bis heute an die Gründerjahre in Friedensau erinnert.

Die Verhältnisse der Weimarer Republik verhinderten nach dem Krieg ein Wiederaufleben der Tradition. In veränderter Form und mit weniger Teilnehmern konnte während der NS-Zeit eine sog. Große Bibelwoche abgehalten werden. Gleiches wurde auch 1957, 1972 und 1980 während der DDR möglich. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands war es nur eine Frage der Zeit, bis gemeinsame Konferenzen, jetzt unter dem Namen „G-Konferenzen“ oder „G-Camp“, Adventisten aus ganz Deutschland zusammenbrachten. Das auch diesem Sommer geplante „Hope-Camp“ macht deutlich, wie eng Gemeinschaft und Mission miteinander verbunden sind.

Ein Baustein der Gründerjahre fand dieses Jahr im Mai seine Fortsetzung: die Delegierten-Konferenz der beiden deutschen Verbände. Am 15. und 16. Mai kamen die Vertreter aller deutschen Gemeinden in Friedensau zusammen, um über gemeinsame Anliegen zu beraten. Auch wenn der Pragmatismus der frühen Jahre längst verflogen ist und große Entscheidungen heute oft viel mehr Vorlauf als noch vor 120 Jahren benötigen, so kann diese Konferenz als ein ermutigendes Zeichen angesehen werden. Sicher werden manche Brötchen heute kleiner gebacken, während die äußeren Umstände in der Arena viel komfortabler sind als es die Lagerzelte damals hergaben. Doch nicht zu unterschätzen sind die vielen Gespräche in den Pausen, der Smalltalk mit den Gemeindevertretern aus anderen Regionen Deutschlands und das gemeinsame Singen und Beten. Diese Tradition darf gerne bald wieder fortgesetzt werden. Dr. Johannes Hartlapp, Dozent für Kirchengeschichte an der ThHF

Einen besonderen Quellenfund konnte das Historische Archiv der Siebenten-Tags-Adventisten in Europa vermelden. Bruder Helmut Hahn aus Darmstadt-Eberstadt förderte dieses interessante Dokument zutage, in dem beschrieben ist, mit welcher Begeisterung vor über 100 Jahren die Zeltversammlungen in Friedensau aufgesucht worden sind. Es ist die Geschichte der Familie Kratzer aus Wolfratshausen, die mit vier Kindern auf einem selbstgebauten Wagen nach Friedensau zog:

„Ein eigenartiges Gefährt erregte am Freitag gegen Abend auf dem Bahnhofplatze allgemeine Aufmerksamkeit. Auf einem zweirädrigen Brückenwagen war ein kaleschenartiger Oberbau angebracht, in dem auf Sitzbänken drei Kinder im Alter von 6, 5 und 4 Jahren saßen, während in einem geflochtenen Korb, der am Hinterteil des Wagens stand, ein etwa halbjähriges Kind ruhte. Auf dem Wagen sind verschiedene Koffer und Gepäckstücke festgeschnallt sowie eine Anzahl Stäbe, dazu bestimmt, bei Regenwetter über das Gefährt ein Zeltdach zu spannen. Der Raum zwischen den Rädern wird durch Anbringung zweier größerer Kasten ausgenützt, in denen sich allerhand Utensilien befinden. Der Besitzer dieses eigengenartigen Gefährtes ist der Bürstenbinder Thomas Kratzer aus Wolfratshausen, der auf der Reise nach Nürnberg begriffen ist. Von dort gedenkt er sich mit seiner Familie zu dem Ende Juli in Magdeburg stattfindenden Kongreß der Adventisten, einer religiösen Sekte, zu begeben. Kratzer war früher 15 Jahre in München ansässig und hat schon damals Propaganda für die Ideen der Sekte gemacht, hielt sich dann einige Zeit in Murnau und Wolfratshausen als Bürstenbinder auf und gedenkt sich nunmehr lediglich als Missionsarbeiter zu betätigen. Die Familie führt eine durchaus naturgemäße Lebensweise, der Mann wie seine Frau und seine Kinder machen einen sauberen und sympathischen Eindruck. Während der Mann den Wagen zog, schritt die Frau hinterher und verteilte an die den Wagen begleitende Menge Jugendzeitschriften der internationalen Traktatgesellschaft“ (Helmut Hahn: »Es geschah 1904«, in: Credo, Zeitschrift der Freikirche der STA in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland, Ausgabe 01/2022, Seiten 14 und 15).

Bild der THH Friedensau
Autor des Blogbeitrages: Dr. Johannes Hartlapp, Dozent für Kirchengeschichte an der ThHF
Foto: ThHF | Tobias H. Koch