Mission und Krisen: die Missionswissenschaft

06. Dez. 2018 / Wissenschaft & Forschung

Die Missionswissenschaft ist eigentlich eine relativ neue akademische Disziplin im Bereich der Theologie. Sie entstand im Zusammenhang mit der Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts und wurde zunächst dem Namen entsprechend als „Wissenschaft von der Mission“ aufgefasst. Viele unterschiedliche Denominationen und prominente Theologen (wie zum Beispiel Karl Barth) wurden aber darauf aufmerksam, dass Reflexion über die komplexen Herausforderungen der christlichen Mission erforderlich ist. Die missionarische Praxis braucht einen Prozess, der validiert, korrigiert und zur Neuausrichtung führt.[1] Das Reflektieren über die Missionspraxis stellt Fragen an die Theologie, und das Reflektieren über die Theologie der Mission führt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Missionspraxis.[2]

Die Grundfrage der Missionswissenschaft führte christliche Gemeinden schon weit vor dem 19. Jahrhundert zu ernsthaften Auseinandersetzungen: „Worin besteht die wahre Sendung der Kirche?“ Wenn die biblisch-theologischen Grundlagen im Sein und Handeln der Gemeinde unzureichend berücksichtigt werden und die von Christus gegebenen Motive und Ziele unklar erscheinen, wird auch die missionarische Praxis folglich darunter leiden. Dies führt nicht nur zu einer Krise der Mission, sondern gleichzeitig auch zu einer Krise der ganzen Kirche.

Die urchristliche Gemeinde mag beinahe perfekt erscheinen, aber auch sie erlebte bereits am Anfang eine grundlegende Krise, die wir in Apostelgeschichte 6 lesen können. Das einmütige Miteinander verschwand: Die griechischen Juden murrten, weil etliche bei der Versorgung übersehen wurden. Die Apostel erlebten plötzlich erheblichen Druck und falsche Erwartungen; die weitere Entwicklung der Gemeinde war gefährdet. Sie mussten handeln, und die Apostel ergriffen das Wort: „Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben“ (Apg. 6,2–4, Lutherbibel).

Die Rede der Apostel beweist nicht nur ein klares Berufungsbewusstsein, sondern auch Klarheit über die Lage, Weisheit für die Lösung und eindeutige Schritte für die weitere Gemeindeentwicklung. Das Volk hörte auf sie, neue Mitarbeiter wurden eingesetzt, der Friede war wiederhergestellt und „das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß“ (Apg. 6,7).

Oft sind Gemeinden und Kirchen mit praktischen Fragen missionarischer Aktivitäten zu beschäftigt und neigen dazu, die notwendige Reflexion über theologische Grundlagen der Mission zu vernachlässigen. Häufig wird sie erst durch Krisen dazu genötigt. Am Ende des 19. Jahrhunderts erlebte zum Beispiel das Wachstum der Adventgemeinde starke Schwankungen: von einer unglaublichen Quote von 18,38 % fiel das Wachstum in drei Jahren auf - 5,97 % zurück. In diesem Kontext forderte Ellen White die Gemeinde auf, zum Vorbild Jesu zurückzukehren und die theologischen und praktischen Konsequenzen seines Beispiels wahrzunehmen. Ihre Worte sind bis heute aktuell:

„Nur die Methode Christi wird wahren Erfolg erzielen, das Volk zu erreichen. Der Heiland verkehrte mit den Menschen als einer, der ihr Bestes wünschte.“[3] Wie sie die praktische Umsetzung gleich danach beschrieb, bleibt aber heute oft unerwähnt. Zu einer Zeit, als Adventisten auf die Verkündigung der Lehre großen Wert legten, forderte sie zu einem Paradigmenwechsel in der Mission auf: „Es ist notwendig, den Menschen durch persönliche Bemühungen nahezukommen. Wenn weniger Zeit auf das Predigen verwendet und mehr Zeit in persönlichem Dienst zugebracht würde, würde man größere Erfolge sehen. Den Armen sollte geholfen, für die Kranken gesorgt werden, die Traurigen und Betrübten getröstet, die Unwissenden unterwiesen, die Unerfahrenen beraten werden. Wir sollen mit den Weinenden weinen und uns mit den Fröhlichen freuen. Begleitet von der Macht ernster Ermahnung, der Macht des Gebets, der Macht der Liebe Gottes kann und wird dies Werk nicht ohne Frucht bleiben.“[4]

Auch heute erleben wir Krisen in der Gemeinde und in der Mission, aber sie sind nicht nur eine Herausforderung, sondern gleichzeitig auch eine Chance für die notwendige Neuausrichtung und Neuorientierung. Dafür muss die Gemeinde regelmäßig in den Spiegel schauen und auch heute über sich selbst offen und kritisch nachdenken können. Der bekannte Missionstheologe Hendrik Kraemer schrieb 1947, dass Christen genau dies viel zu selten tun und eigentlich nur durch Krisen die Bereitschaft dazu entwickeln: „Genau genommen sollte man sagen, dass die Kirche sich stets in einem Zustand der Krise befindet und dass es gerade ihr Versäumnis ist, dass sie dessen nur gelegentlich gewahr wird … immer [sind] scheinbarer Misserfolg und Leiden erforderlich gewesen, damit sie für ihre wahre Natur und Sendung volles Verständnis fand.“[5]

Krisen helfen uns zu erkennen, dass wir sorgfältiger daran arbeiten sollten, Theologie, Struktur und die Methoden für Mission miteinander in eine engere Harmonie zu bringen.[6] Wir sind eine weltweite Kirche geworden, deren Kultur- und Bildungsvielfalt große abweichende gesellschaftliche Kontexte widerspiegelt. Dabei stellen uns die erlebten Missionskrisen auf eine echte Bewährungsprobe. Das Nachdenken über die Frage nach der wahren Sendung der Kirche braucht heute zeitgemäße Antworten. Kann es sein, dass Missionswissenschaft wichtiger geworden ist als je in unserer Geschichte zuvor?

Dr. László Szabó, Prodekan Fachbereich Theologie

[1] J. A. Kirk, What is Mission?: Theological explorations. Minneapolis, MN: Fortress Press, 2000, S. 21.

[2] Siehe William A. Dyrness, Veli-Matti Kärkkäinen, Juan F. Martinez and Simon Chan (eds.): Global Dictionary of Theology: A Resource for the Worldwide Church. (Downers Grove, Ill. | Nottingham, England: IVP Academic, 2008), S. 550.

[3] Ellen Gould White: The Ministry of Healing. Oakland, ID: Pacific Press Publishing Association, 1905, S. 143.

[4] Ibid., S. 143–144.

[5] Hendrik Kraemer: The Christian message in a Non-Christian World. New York: Harper, 1938, S. 24.

[6] Siehe Gorden R. Doss: Structural Models for World Mission in the Twenty-first Century: An Adventist Perspective, in: Andrews University Seminary Studies, 43/2. Berrien Springs, MI: Andrews University Press, 2005, S. 301–313.

© Theologische Hochschule Friedensau, veröffentlicht in DIALOG 4-2018, S. 4

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Der Autor: Dr. László Szabó