»Rassismus erkennen und bewältigen«

19. Mai. 2021 / Lernen & Studieren

Rassismus ist ein menschliches Phänomen. Wir erleben es in unterschiedlicher Form und in unterschiedlichen Kulturen, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer vermeintlichen Herkunft ausgegrenzt werden. Wir sprechen heute über Rassismus, der von weißen, mitteleuropäischen und westlichen Menschen in unterschiedlichem Grade ausging und ausgeht, da dies in den vergangenen Jahrhunderten erfolgreich Schule gemacht hat. Die Linie verläuft aber nicht nur durch Farbe, denn es gibt auch Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Diskriminierung von Sinti und Roma und Menschen aus Osteuropa im Zuge von West/Ost- Aufteilungen und die Auswirkungen vom Kapitalismus, die vielen zu Verlierern macht durch verschiedene Hautfarben und Kulturen hindurch. Das alles gehört dazu, wenn wir Rassismus thematisieren.

Rassismus ist ein strukturelles, wirtschaftliches, geschichtliches und psychosoziales Problem, in dem wir alle inbegriffen sind. Aber nicht alle sind in demselben Maße davon betroffen. Deshalb legen wir heute den Schwerpunkt auf westlich-europäischen Rassismus, und die Erschaffung von Rassenkategorien, die von weißen Menschen ausgingen, die sich selbst in dem Prozess objektiviert und unsichtbar gemacht haben. Auf dem Rücken von versklavten, ausgebeuteten, entwurzelten Völkern und kolonialisierten und systematisch ausgebeuteten Regionen, ausgerotteten indigenen Völkern, erschufen sich weiße Europäer - auch maßgeblich angetrieben von ihrem innerkontinentalen, nationalen Wettstreit - die Schwarzen, die Indianer, die primitiven indigenen Völker Südamerikas. Im Zuge dessen teilten sie große Gebiete Afrikas, Südamerikas und Asiens unter sich auf und schufen dabei Grenzen, die bis heute mehreren Regionen dieser Welt zum Verhängnis geworden sind und Konflikte nach sich ziehen (siehe z.B. den Nahen Osten).

Bei dieser Erschaffung geschah etwas Perfides. Das Weißsein, was auch als Weiß und west/mitteleuropäisch sein oder weiß und amerikanisch sein, oder weiß und westlich sein gedacht werden kann, machte sich unsichtbar. Weißsein wurde zu einer Kategorie, die sich unsichtbar machte und sich zum Objektiv setzte, bis heute. Und das, nach Jahrhunderten von Geschichte, in denen es sich und die vermeintlich andersartigen ‚schwarzen‘ und andere Völker nach farblichen Kategorien ‚geschaffen‘ hatte. Nun ist eine vermeintliche Farbenblindheit eingetreten, bei der es von denselben Menschen heißt – wir sind alle gleich, schwarz oder weiß. Es gibt nur Menschen.

Dabei wurden zuvor im Zuge wirtschaftlicher Ausbeutungen Rassenkategorien geschaffen, die das Unsägliche zu begründen suchten. Die überlegenen Weißen wurden jüdischen, orientalischen, asiatischen, indigenen Völkern Südamerikas und schwarzen Menschen in unterschiedlichen Stufen gegenübergestellt und als überlegen angesehen und erklärt. Die Ausbeutenden erklärten sich zu den Zivilisierenden. Die Eroberer und Ausrottenden erklärten sich zu den Entdeckern. Getrieben von Habgier und innereuropäischem Konkurrenzkampf wurden große Teile der Welt mit ihren Kulturen über Jahrhunderte hinweg ausgebeutet und systematisch vernichtet und neu aufgestellt, mit nachhaltigen Konsequenzen.

Dabei schafften es weiße Menschen, die zwei Weltkriege führten, die Millionen von Menschen das Leben kosteten und Waffen schufen, die die ganze Welt zu zerstören vermögen, sich zu zivilisiert und zum Maß der Dinge zu erklären und der Welt Demokratie und Menschenrechte beizubringen. Die Zerstörer von einst erklären sich nun zu den geläuterten globalen Gewinnern und Verteidigern von Menschenrechten, und zwar überall auf dem Globus.

Menschen, deren Großeltern ‚Sieg Heil‘ riefen und miterlebten, wie ihre jüdischen Nachbarn plötzlich verschwanden und anschließend zu Millionen ermordet wurden, sprechen von 12 Jahren ‚Vogelschiss‘ angesichts 1000 Jahre ruhmreicher deutscher Geschichte, als wäre der Hass, der sich über Jahrhunderte gegen Juden anbahnte, über Nacht entstanden und nach Ende des Krieges wieder verschwunden. ‚Die Nazis kamen‘, sagte jemand, als kämen sie vom Mond. Und als kehrten sie wieder dahin. Und diese Menschen sitzen nicht nur mit so vielen Stimmen im deutschen Parlament, sondern sind repräsentativ für viel mehr Menschen in der Bevölkerung, die wie im Programm der Partei skandieren ‚Afrika kann nicht in Europa gerettet werden‘. Als hätten Menschen auf dem afrikanischen Kontinent Bismarck gebeten, von Berlin aus mit seinen europäischen Freunden einen ganzen Kontinent wie ein Stück Brot untereinander aufzuteilen.

Während es vielen anderen Menschen gelingt, den Kopf darüber zu schütteln, dass solche ungeheuerlichen Aussagen in Deutschland möglich sind, wo Kriegs- und Holocaustüberlebende noch unter uns sind, fällt es schwer, sich über die eigene privilegierte Position als weißer, europäischer Mensch in der Gesellschaft Gedanken zu machen.

Der Wunsch als guter Mensch zu gelten, der keine Vorurteile hat oder rassistisch denkt, scheint viel größer zu sein als die Bereitschaft, Rassismus als ein System anzusehen, dessen Teil man unweigerlich ist, aufgrund dessen, dass man ist, wer man ist. In dem Fall weiß und vor allem West- und Mitteleuropäer.

Weißsein ist nicht nur eine Farbe, sondern eine Kategorie des Seins, die sich über Jahrhunderte einen Platz geschaffen hat, wie sonst keine andere. Es ist die unsichtbare Farbe, die aber sehr wohl in der Lage war, eine Kategorie von schwarzen Menschen zu schaffen, die es unterjochte (James Baldwin: Nur weiße Menschen können beantworten, warum sie schwarze Menschen gebraucht haben).

Wenn nun Schwarze aus ihrer Not eine Tugend machen, sich als Schwarze bezeichnen, um ihre Identität und Marginalisierung sichtbar zu machen und weiße Menschen aufrufen, sich als weiße Menschen zu sehen und anzuerkennen, welche Vorteile es ihnen seit Jahrhunderten gebracht hat und heute noch bringt, sind sie plötzlich von Farbenblindheit geschlagen. ‚Für mich spielt Farbe keine Rolle‘, heißt es. ‚Wir sind alle Menschen.‘ ‚Für mich bist du nicht schwarz, Simret, sondern nur Mensch.‘ Als wäre das ein Widerspruch. (‚Eine Polizistin erschoss einen schwarzen Mann‘ in Minneapolis, nach dem sie ihre Waffe mit ihrem Taser verwechselte, hieß es kürzlich in einer öffentlich-rechtlichen Fernsehnachricht. Hat sie denn selbst keine Hautfarbe, die Polizistin?)

Die Realität ist: Weißsein ist eine Kategorie der Macht, der Bevorzugung, der kulturellen, gesellschaftlichen und medialen Repräsentation, des Helfertums, des Zivilisertseins. Nach allem was geschehen ist und immer noch geschieht, ist Schwarzsein eine Bedrohung, eine Gefahr. Es sind Schwarze, die die Wohnung und die Arbeit nicht bekommen, weil sie so aussehen, wie sie aussehen oder so heißen, wie sie heißen (das ließe sich auch durch ‚orientalische‘ Menschen oder muslimische Namen ersetzen). Es sind Schwarze, die von der Polizei grundlos kontrolliert werden, es sind Schwarze, die mit einem Gefühl des Unbehagens durch manche Straßen in Deutschland laufen, während weiße Menschen ihre Handtasche fester halten, wenn einer von ihnen in die Bahn steigt, oder sogar neben ihnen sitzt.

Es sind Muslime, die ihre Zugehörigkeit zu Deutschland beweisen müssen, indem sie am besten ihr Kopftuch ablegen und sich öffentlich zum Grundgesetz bekennen, was einem nicht einmal im Traum einfallen würde vom Herrn Mayer zu verlangen. Er kennt ja alle Artikel des Grundgesetzes auswendig. Dabei waren es nicht die Großeltern des Mannes aus Somalia, die zusammen mit Gleichgesinnten die ganze Welt vor 70 Jahren in Angst und Schrecken versetzten und die Würde von Abermillionen Menschen preisgaben. Und Hanau geschah nicht vor 70 Jahren.

Es sind immer noch die Juden, die angeblich in irgendwelchen Hinterzimmern sich verschwören und die Weltherrschaft planen, während in Realität manche von ihnen sich nicht einmal trauen, mit ihrer Kippa durch manche Straßen in Berlin zu laufen. Aber ja, das sind ja die Muslime, die sie bedrohen. Es ist der neue, muslimische Antisemitismus. Problem ausgemacht. Deutschland hat ja gelernt. Wirklich? Woher kam der nochmal, der, der eine Synagoge in Halle angriff? In welchem Parlament sitzt nochmal der, der vom ‚Denkmal der Schande‘ im Herzen der deutschen Hauptstadt sprach?

Weißsein existiert und bringt Vorteile mit sich und nimmt jeden in die Verantwortung, der es ist.

Du hast es dir nicht ausgesucht, weiß zu sein, aber das nimmt dich in die Verantwortung, weil es dir eine Vormachtstellung in der Gesellschaft und in der Welt gibt. Menschen, denen es gelingt, ihren CO2-Ausstoß und ihren Fleischkonsum mit der Klimafrage in Verbindung zu bringen, sollten es hinbekommen, ihren privilegierten Status als Weiße in Verbindung mit jenen zu bringen, die es nicht sind und deshalb Diskriminierung erfahren und bestenfalls bevormundet und unterstützt werden, denn das fühlt sich ja gut an.

Nein, du bist nicht farbenblind. Schwarze sind es auch nicht. Du bist weiß. Und ich bin schwarz. Und das bedeutet etwas in dieser Welt. Nein, du brauchst mir keine Komplimente zu meinem Deutsch zu machen und mich als jemanden darzustellen, der im Gegensatz zu vielen anderen, die ja auch schon so lange hier leben und noch nicht so gut Deutsch können, schon so weit ist, und mich auf Kosten derer, die so sind wie ich, zu einem Beispiel gelungener Integration erklären. Ich frage mich, wie viele weiße Menschen, die seit Langem in afrikanischen Ländern leben, lokale Sprachen vor Ort sprechen können. Ahmed, der nur seit vierzig Jahren in Deutschland lebt, kann sich gut verständigen und hat sich sogar trotz aller Widerstände selbständig gemacht und verkauft dir das Gemüse, das du so frisch findest. Und versprochen, ich werde dich nicht fragen, welche zweite oder dritte Sprache du gelernt hast, die nicht spanisch, französisch oder italienisch ist, und mit welchen Sprachen du dich in afrikanischen Ländern mit den Menschen unterhalten könntest, die nicht in den letzten Jahrhunderten dorthin gekommen sind, oft genug auf Kosten lokaler Sprachen vor Ort. Ungebeten, versteht sich.

Nein, es sind nicht schwarze oder muslimische oder jüdische oder – ich würde auch sagen osteuropäische Menschen, auch nicht Sinti und Roma, die sich zu erklären und einzubringen haben, nach aller Diskriminierung und Rassismus, die sie erfahren haben und erfahren, sondern du bist in der Pflicht, dich für sie einzusetzen, wo das geschieht. Du stehst in der Pflicht, Möglichkeiten zu schaffen und zu öffnen bei der Wohnung- und Arbeitssuche, im Amt, auf dem Campus, bei den Stellen und Verantwortungsbereichen, die belegt werden oder sich öffnen.

Und ja, du hast dich zu reflektieren, wie du mit Menschen, die anders aussehen als du, umgehst. Ob du sie respektierst oder ob du dich innerlich überlegen fühlst, weil du auf der anderen Seite des Tisches im Büro sitzt und besser deutsch sprichst als sie, ohne einen Satz in ihrer Sprache zu können, obwohl es die Sprache des Landes ist, in dem du vielleicht sogar gerne Urlaub machst.

Europa steht in der Pflicht. Weiße Menschen stehen in der Pflicht. Du stehst in der Pflicht. Du kannst nichts dafür, dass du als weißer, privilegierter Mensch in diese Welt gekommen bist. Aber das nimmt dich in die Pflicht zu handeln. Trotzdem trägst du Mitverantwortung für das, was seit Jahrhunderten an Macht auf Kosten anderer aufgebaut wurde und weiter aufgebaut wird. Du kannst dort, wo du bist, dich und deine Lebenswelt reflektieren und nicht nur Menschen mit anderem farblichen und kulturellem Hintergrund mit Respekt behandeln, wie du dich behandelst. Du kannst ihre Kompetenzen anerkennen, dafür Raum geben, von ihnen lernen, Macht abgeben und dich von ihnen führen lassen. Was dabei weder notwendig ist noch hilft ist defensives Verhalten oder Scham oder sagen, ‚Ja, aber…‘. Es geht eben nicht um dich, sondern um den anderen. Zusammengefasst:

  1. Rassismus ist ein menschliches Phänomen, das Menschen in unterschiedlichem Maße als Täter und Opfer betrifft.
  2. Der systemische und strukturelle Rassismus, der von Europa und dem Westen seit Jahrhunderten aufgebaut wurde, hat die Vormachtstellung von weißen Menschen hervorgebracht und auf vielen Ebenen – wirtschaftlich, medial, kulturell, politisch etc. – gefestigt und sich dabei selbst unsichtbar gemacht und zum Objektiv gesetzt. Es erschuf schwarze Menschen und andere, die es wiederrum nicht mehr als solche sehen und anerkennen will, und noch weniger ihnen Raum geben und Macht teilen. Ein Täter hat sich zum Opfer gemacht oder sich bestenfalls zur generösen Hilfsgestalt erklärt.
  3. Weiße Menschen können nichts dafür, dass sich ihre Vorväter seit Jahrhunderten das Land anderer angeeignet haben und sie ausgebeutet haben. Sie können aber was dafür, was sie mit dem machen, was nun da ist und sich noch weiter auf dem Rücken anderer aufhäuft.

Und schließlich, nicht ich sollte diese Rede halten, sondern du. Nicht Schwarze sollten von Dorf zu Dorf ziehen und Kulturarbeit machen, um Ängste und Vorurteile der Bevölkerung abzubauen. Das wäre so, als würde man Menschen, die Missbrauch erfahren haben, bitten, zu den Tätern zu gehen, um ihnen zu zeigen, dass das so nicht in Ordnung war, sie missbraucht zu haben, da ja sie auch nur Menschen sind wie ihre Peiniger. Es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen, jeder an seiner Stelle, jede mit ihren Möglichkeiten und Handlungsräumen.

Simret Mahary (Frankfurt/Main)

Der Vortrag als Video.

Bild der THH Friedensau
Der Referent bei einer früheren Veranstaltung: Simret Mahary
© Tobias Koch