„Weinende Steine“ – Ungewisse Schicksale und ein Fotowettbewerb

24. Mrz. 2021 / Wissenschaft & Forschung

Im Rahmen des Forschungsprojektes „Dokumentation der sakralen Spuren deutscher Kultur an der Wolga“ führte Daniel Heinz, Ph.D., vor einigen Monaten mit einem Begleitteam eine Feldforschungsreise in das Wolga-Gebiet durch. Die Reise diente in erster Linie der fotografischen Dokumentation und Darstellung der noch bestehenden, aber bis auf wenige Ausnahmen im Verfall begriffenen deutschen Kirchen in der ehemaligen sowjetischen Wolgarepublik (1924–1941). Dieses Kernland russlanddeutscher Siedlungsgeschichte liegt zwischen Saratov und Wolgograd (diese Stadt hieß von 1925 bis 1961 Stalingrad). Das historische Siedlungsgebiet der „Wolgadeutschen“, die seit Ende des 18. Jahrhunderts als Bauern, Handwerker und Unternehmer den Landstrich an beiden Ufern der Wolga („Berg- und Wiesenseite“) systematisch besiedelt hatten, erstreckt sich etwa 450 km in Nord-Süd-Richtung und etwa 300 km in Ost-West-Richtung. Bislang ist in der Forschungswelt nicht genau bekannt gewesen, wie viele deutsche Kirchenobjekte (in Holz oder Stein) aus jener Zeit – ungeachtet ihres gegenwärtigen Bauzustandes – erhalten geblieben sind. Die Forschungsreise wurde durch die Fritz-Thyssen-Stiftung, Köln, großzügig gefördert. Als Ortskundiger und wissenschaftlicher Berater begleitete Prof. Dr. Sergey Terekhin die kleine Gruppe. Als Fotograf konnte der adventistische Filmemacher Jurij Sachvatajev, heute Masterstudent an der Theologischen Hochschule Friedensau, gewonnen werden.

Es war nicht immer einfach, in dem weiten Steppengebiet die Kirchen und Kirchenruinen in den verstreuten Dörfern, wo ehemals deutsche Kolonisten lebten, zu lokalisieren, denn manche Siedlungen existieren heute nicht mehr und sind auf keiner modernen Straßenkarte verzeichnet. Es wurden mehr als 3.300 km im Jeep zurückgelegt, nahezu 1.700 Fotos angefertigt, Lageskizzen entworfen und Dorfbewohner befragt. Durch die Feldforschungsreise konnte nachgewiesen werden, dass von etwa 170 deutschen Gotteshäusern aus Stein oder Holz aus dem Jahr 1914 in dem oben eingegrenzten Gebiet heute noch 26 (21 evangelische/5 katholische) – die meisten davon in einem ruinösen Zustand – existieren. Manche überlebten als Getreidespeicher oder Schuppen, als Dorfbibliothek, Turnsaal, Klub- und Tanzhaus oder als Klassenraum. Die meisten Kirchen wurden in der späteren Sowjetzeit zerschossen und gesprengt. Hoffnung vermitteln heute einige wenige Renovierungs- und Wiederaufbauprojekte wie zum Beispiel die Kirchen in Marx, Zürich/Sorkino, Gnadentau/Verchnij Jeruslan und die kleine katholische Friedhofskapelle in Seelmann/Rovnoe. Manche Kirchenbauten zeigen noch als Ruine ihre Würde, zeugen von der Blüte der deutschen Kolonistenzeit und der Frömmigkeit ihrer fleißigen Siedler (z.B. Messer/Ust-Solicha, Walter/Grečichino, Bähr/Kamenka). Sie sind die letzten, einsamen, oftmals vergessenen Zeugen einer untergegangenen Kultur. Die gewonnenen Fotos geben einen erschütternden Einblick in die Verfallsgeschichte dieser Kirchen und machen gleichzeitig deren einstige Schönheit noch einmal vorstellbar. Ein russischer Dorfbewohner bekannte beim Anblick einer der Kirchen: „Es ist, als ob diese Steine weinten und dem Betrachter etwas zuraunen wollten – doch niemand versteht ihre Sprache und ihre Klage.“

Neben den sakralen Baudenkmälern, die von den lokalen Behörden ihrem Schicksal überlassen bleiben, versuchte Daniel Heinz auch adventistischen Spuren nachzugehen. So wurde in Marx das Gebäude gefunden, in dem Mitte der 1920er Jahre mit Hilfe von Ärzten aus Deutschland eine weithin bekannte adventistische Augen- und Ohrenklinik eröffnet wurde. Durch den Untergang der Wolgarepublik und die Deportation der deutschen Bevölkerung im Jahr 1941 nach Sibirien und Mittelasien wurde das Schicksal der Wolgadeutschen und ihrer kulturellen Leistung endgültig besiegelt. Auch die blühenden deutschen Adventgemeinden, die mit etwa 1.500 Gliedern als „Wolga-Vereinigung“ organisiert waren, erloschen. Ein religiöser Überlebenskampf ungeahnten Ausmaßes in den Weiten des Sowjetreiches begann und setzte sich fort bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Von den adventistischen Aussiedlern, die heute in Deutschland leben, tragen viele die Namen ihrer wolgadeutschen Vorfahren, aber kaum einer ist noch im alten Wolgagebiet geboren oder spricht den typischen Dialekt. Daniel Heinz konnte in Gesprächen und durch gezielte Nachforschungen in Archiven der Städte Saratov und Engels im Rahmen des Märtyrerprojektes (siehe Bericht in „Unser Friedensau“, Nr. 1-2020) noch adventistischen Einzelschicksalen nachspüren. Hinter manchem Namen verbirgt sich ein Schicksal, das Bücher füllen könnte.

Ein weiteres Ergebnis der Feldforschungsreise stellt die gegenwärtige Veröffentlichung von Prof. Terekhin dar, die 2020 im BKDR-Verlag Nürnberg erschien: „Deutsche Siedlerarchitektur im Ausland“. Im Buch beschreibt und analysiert der Autor die Architektur deutscher Kolonisten nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern auch in Nord- und Lateinamerika mit ihren typischen Ausprägungen und Formen im Kontext eines fremdkulturellen Umfelds. Terekhin schuf dabei eine wissenschaftliche Definition für das charakteristische Phänomen der „Siedler- oder Kolonistenarchitektur“ deutscher Emigranten. Einige Fotos aus dem Buch entstammen der Sammlung von Jurij Sachvatajev, die er auf der Feldforschungsreise anlegte. Mit einem dieser Bilder gewann Jurij Sachvatajev einen Fotowettbewerb zum Thema „deutsche Kirchen in Russland“; veranstaltet von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland („Volk auf dem Weg“).

Daniel Heinz, Ph.D. | Leiter des Historischen Archivs der Siebenten-Tags-Adventisten in Europa

Bild der THH Friedensau
Der Autor des Beitrages: Daniel Heinz, Ph.D., Leiter des Historischen Archivs (AAE)
© ThHF | Andrea Cramer
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Im Verfall begriffene, von Deutschen erbaute Kirchen in der ehemaligen sowjetischen Wolgarepublik
© Archiv AAE
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