Conradis Grundsatz – unsere Perspektive

06. Nov. 2018 / Wissenschaft & Forschung

Der Ausbruch des Weltkrieges bedeutete für die junge Kirche der Adventisten in Deutschland eine große Belastung. Viele Mitarbeiter wurden zum Deutschen Heer eingezogen. Der Krieg drang in kurzer Zeit bis in die deutschen Kolonien nach Afrika, Palästina und in die anderen Gebiete des Osmanischen Reiches, sodass die Tätigkeit der Missionsstationen nicht weitergeführt werden konnte. Das Herzstück der Gemeinschaft, die missionarische Arbeit, kam innerhalb von wenigen Wochen fast vollständig zum Erliegen. Dazu erschütterten die Angriffe von Seiten der Kritiker, aus denen sich später teilweise die Reformbewegung bildete, vor allem ab Frühjahr 1915, die Kirche von innen.

Da erreichte Ludwig Richard Conradi am 8. Mai 1915 ein Schreiben des Direktors der Deutschen Evangelischen Missionshilfe, A. W. Schreiber. Beide kannten sich seit längerem recht gut. Der Inhalt des Briefes allerdings war nicht erfreulich. Es ging um das Verhalten adventistischer Missionare in Südchina. Nachdem es ursprünglich ein freundliches Miteinander zwischen ihnen und ihren Kollegen der Berliner und Londoner Mission gegeben hatte, bestand nun aber Grund zur Klage. Was war geschehen? Missionar Anderson von der Adventmission hatte in einer politisch günstigen Situation versucht, eine Reihe von chinesischen Missionsschülern der beiden genannten Missionsstationen „zu sich herüberzuziehen. Der Londoner Missionar Cousins in Poklo urteilte dem Missionar Giesel (Berliner Mission) gegenüber sehr scharf über diesen Einbruch der Adventisten“.[1] Einige dieser Konvertiten hätten auch unter Kirchenzucht gestanden. Ein solches Verhalten verletze nicht allein die missionarische Rücksichtnahme, sondern gefährde auch die Stellung der Adventisten in Deutschland, ganz abgesehen vom entstandenen Schaden in China, so die Bewertung von A. W. Schreiber.

Unmittelbar nach Erhalt des Schreibens antwortete Conradi. Es täte ihm sehr leid, „wenn dort von Seiten der Adventisten-Missionare irgendetwas geschehen ist, dass das einträchtige Wirken der verschiedenen Missionsgesellschaften in China irgendwie stören sollte“.[2] Er verwies darauf, dass es zwei adventistische Missionsgesellschaften gebe, eine in Amerika und die andere hier in Deutschland. „Unser Missionsgebiet erstreckt sich nur auf Afrika mit der Ausnahme von Südafrika und auf Türkisch- und Russisch-Asien und Persien. In diesem Gebiete haben wir versucht, soweit wie es möglich ist, mit den Missionsgesellschaften in gutem Einvernehmen zu arbeiten, was uns auch bis heute gelungen ist.“[3] Und dann konkretisierte er seine Arbeitsprinzipien: Als Erstes ist „unser Grundsatz … bis heute gewesen, in den Missionsgebieten jungfräulichen Boden zu sichern, und den in der Kraft des Herrn zu bearbeiten“.[4] Und ein zweiter Grundsatz habe ihn immer geleitet: … dass wir darauf bedacht sind, „unsere Missionare nicht zu gut zu besolden, wie andere Gemeinden es tun, und auch niemand in unsere Dienste aufzunehmen, der wegen irgendwelcher Vergehen unter Kirchenzucht steht oder entlassen ist.“[5]

Conradi versprach, beim zuständigen Missionsboard über diesen Vorfall Erkundigungen einzuholen und anlässlich der Herbstsitzung des Gremiums in Kalifornien den Tatbestand anzusprechen. Er schloss seinen Brief mit den Worten: „Sie haben nun meine Grundsätze und kennen meine persönliche Stellung. Sie wissen auch, dass es mein Wunsch gewesen ist, soviel wie es mit unseren Grundsätzen sich vereinbart, mit andern Missionsgesellschaften in gutem Einvernehmen zu bleiben.“[6]

Die Antwort von Arthur G. Daniells, damals GK-Präsident, ließ nicht lange auf sich warten. Er kam nach seinen Recherchen zu dem Ergebnis: „Our boys in China may not have manifested the greatest wisdom in the Hakka district. I shall give them the best council I can.”[7] (Unsere Jungs in China haben im Hakka-Distrikt vielleicht nicht die größte Weisheit an den Tag gelegt. Ich werde ihnen den bestmöglichen Rat geben.)

Wenn man die Situation bedenkt, in der sich Conradi damals befand, angegriffen und vor den Trümmern seiner Arbeit, dann wiegen diese Aussagen umso schwerer. Seine Ausrichtung, mit der er die Mission in Deutschland und in den Missionsgebieten betrieb, war nicht allein auf die eigene Kirche fokussiert. Er hatte immer auch die anderen Kirchen im Blick. Und das, obwohl er genau wusste, dass es auch unüberbrückbare Reibungspunkte geben konnte. Wenn Conradi von „jungfräulichem Boden“ spricht, den er bei seinen Aktivitäten in den Missionsgebieten zu betreten suche, dann setzt das immer die Kontaktaufnahme und gegebenenfalls Absprachen mit den Kollegen der anderen Kirchen voraus. Diese Wege scheute Conradi nie. Und es hat den Anschein, dass er mit dieser Strategie einer offenen und transparenten Mission in den Kolonien und teilweise auch in Deutschland sehr viel Erfolg hatte.

So berichtet er einige Jahre nach dem Ende des Krieges von seinem Vorhaben, zu einem kirchlichen Treffen nach Grabow in Mecklenburg zu fahren, wo er mit Pastoren die Grundsätze der STA auf geschichtlicher Grundlage diskutieren wolle.[8] Und in einem Nachwort für den verstorbenen Hallenser Kirchengeschichtler Friedrich Loofs schrieb er im Adventboten:

„Wir wollen nicht die Kirche, nur weil es die Kirche ist, als Babel verdammen, wir wollen versuchen, uns hineinzufühlen in ihre Lehre und ihren Geist, um eine sachlich richtige, tendenzlose Darstellung von ihr geben zu können, die das Gute in ihr sieht und anerkennt; dadurch erst erwirbt man sich das Recht, eine Kritik zu üben, die auch die Beachtung der Gegenseite verdient. Die Art, wie der kürzlich verstorbene Gelehrte den Adventismus behandelt hat, nötigt uns Achtung ab und ein stilles Gelöbnis, es ihm nachzutun in Ehrlichkeit und Taktgefühl.“[9]

Respekt und Achtung voreinander, miteinander reden und aufeinander hören, das waren Prinzipien, denen sich Conradi im Umgang mit anderen Christen verschrieben hatte. Ob er es im internen Bereich auch immer durchgehalten hat, das darf angefragt werden. Hier lassen sich sicher Wachstumsbereiche konstatieren. Trotzdem ändert das nichts an der Tatsache, dass während seiner Zeit, in der er in Europa Verantwortung trug, ein Wachstum erreicht wurde, dass es seitdem nicht mehr gegeben hat. Die Erfolge hier in Mitteleuropa korrespondierten mit den Erfolgen in den Missionsgebieten. Deswegen sollte sein Grundsatz unsere Perspektive sein: Nicht feindlich gesinnt, sondern in feiner christlicher Grundhaltung uns den anderen Kirchen gegenüber zu erklären. Ob der zweite Grundsatz, den er im oben genannten Brief an A.W. Schreiber erwähnt, noch zeitgemäß ist, lässt sich bezweifeln, aber das Prinzip dahinter wird deutlich: Keine Konversion um materieller Vorteile willen.

Nur wer mit den andern redet, bleibt selbst transparent und vermeidet Missverständnisse. Reden heißt noch lange nicht, dass man in allen Dingen übereinstimmt. Aber es ist der erste Schritt einer Perspektive für einen echten Dialog. Dem fühlt sich die von Ludwig Richard Conradi maßgeblich gegründete Hochschule verpflichtet.

Dr. theol. Johannes Hartlapp, Kirchenhistoriker an der Theologischen Hochschule Friedensau

[1] Brief Schreiber an Conradi, 8.5.1915 (Archiv des Berliner Missionswerkes, Bestand: Fremde Vereinigungen und Gesellschaften, Abt. I Fach XI Nr. 26, Bd. I 1903–1916).

[2] Brief Conradi an Schreiber, 10.5.1915 (Archiv des Berliner Missionswerkes, ebd.).

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] Brief Daniells an Conradi, 13. September 1915 (Archiv des Berliner Missionswerkes, ebd.).

[8] Brief Conradi an Schilling, 29. März 1927 (Historisches Archiv der Freikirche der STA in Deutschland).

[9] Adventbote 34 (1928), 1. Oktober, 303.

© Theologische Hochschule Friedensau, veröffentlicht im DIALOG 4-2018, S. 7

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Der Autor: Dr. theol. Johannes Hartlapp