Ein Brief und seine Folgen Teil 2

27. Jul. 2023 / Wissenschaft & Forschung

Wilhelm Michael war ein Mann der Sprache. Er hatte Deutsch, Klassische Sprachen und Philosophie in München, Leipzig, Heidelberg und Erlangen studiert und 1909 mit der Herausgabe einer zweibändigen Werksammlung des Dichters Ludwig Christoph Heinrich Hölty im Alter von 25 Jahren die Doktorwürde (Dr. phil.) erworben. 1910 erreichte er durch das Staatsexamen die Lehrbefähigung für das höhere Lehramt. Als Kriegsfreiwilliger nahm er fast am gesamten 1. Weltkrieg teil und war Anfang der 20er Jahre als Studienrat an einem Gymnasium in Magdeburg tätig. In dieser Zeit wurde er mit der Adventgemeinde bekannt. Nach der Taufe musste er aus dem Öffentlichen Dienst ausscheiden, wurde aber als Lehrer an das Seminar Neandertal gerufen und absolvierte dort gleichzeitig im Schnelldurchlauf eine Predigerausbildung. Bereits 1923 übernahm er selbst die Leitung in Neandertal; 1928 wurde er als Schulleiter nach Friedensau berufen.

Sein Blick ging auch immer über die Sprache hinaus
Es ist verständlich, dass seine Liebe zur Sprache vor Hebräisch und Griechisch nicht haltmachte. Um zu den besten Übersetzungsergebnissen zu kommen, korrespondierte er mit den Kapazitäten seiner Zeit, so mit dem Alttestamentler und Religionswissenschaftler Otto Eißfeldt. Dass er sich dabei vor allem mit den adventistischen Spezifika vertraut machte, unterstreicht sein besonderes Interesse an der Adventgemeinde. Allerdings ging sein Blick auch immer über die Sprache hinaus. Ein Beispiel ist das 1931 erschienene Buch „Der Christen Schuld und Sühne: eine Sammlung von Zeugnissen“. Hier nimmt er die „Kultur“ der Kolonisation kritisch in den Blick und belegt anhand von Zeugnissen der Täter die Schuld der Weißen an den „Naturvölkern“ in Europa, in Nord-, Mittel- und Südamerika und Westafrika sowie den „gebildeten Völkern Asiens“ (Japaner, Chinesen, Inder). Als Sühne stellt er die Verbreitung und den Glauben aus der Heiligen Schrift dar, aber nicht als Kulturtransfer westlicher Zivilisation. Als die beiden wichtigsten Kriterien werden die Wiedergeburt (bei „den Gewinnenden“ und „den Gewonnenen“) und die Menschenachtung (im Sinn der Abschaffung der Sklaverei und der Erhaltung des Volkstums) hervorgehoben. Natürlich ist auch Wilhelm Michael ein Kind des Denkens seiner Zeit, aber dass er ein Schlusskapitel mit dem Titel „Der Wert des einzelnen Menschen“ anschließt, ist seiner Zeit weit voraus.

Wilhelm Michaels Deutung des Heiligtums
Wilhelm Michael kam bei seinen sprachlichen Studien zu dem Schluss, dass die Vorstellung eines Heiligtums im Himmel nicht der Bedeutung dessen entspricht, was Mose beim Bau der Stiftshütte in 2. Mose 25,9.40 gezeigt und von Luther mit „nach dem Bild“ übersetzt wurde. Da der gleiche Ausdruck auch in 1. Chronik 28, 11.12.18 und 19 bei der Anweisung für den Tempelbau Davids in Jerusalem verwendet wird, kann es sich nur um ein Wort handeln, dessen Grundbedeutung die „Bauart“ bzw. den „Entwurf“ beinhaltet. Daraus schlussfolgert er, die Stiftshütte sei nicht nur ein bedeutsames Sinnbild, sondern auch der Anfang einer Entwicklungsreihe, ein weissagendes Vorbild für die Zeit der Vollendung, die durch die Menschwerdung Jesu geschah. Von Jesus sagt Johannes (1,14): Das Wort war Fleisch und wohnte („zeltete“ s. Elberfelder Übersetzung; wörtliche Übersetzung von Wilhelm Michael: „Die Gottheit im Zelte seines heiligen Leibes“) unter uns.

Das Urbild verwirklicht sich durch den Geist
Weiter erklärte er: „Durch Christus wird der Bund gebracht, dessen Gesetz nicht mehr in die steinernen Tafeln, sondern in die fleischernen Tafeln des Herzens gegeben wird, wo es dann keiner Bundeslade mehr bedarf (Jer. 31,33). Jesus war leibhaftig die Hütte Gottes unter den Menschen. So meint es auch der Hebräerbrief (8,4), wenn er jene Worte, da Mose auf das gegebene Gesicht verwiesen wird, in einen noch höheren Sinn faßt. Jenes Bild einer irdischen Wichtigkeit war selber nun das Schattenbild einer höheren, himmlischen Wahrheit. Dieses Urbild ist aber nicht durch den Bau, sondern durch den Geist zu verwirklichen. Nachdem der Tempel des Leibes Christi abgebrochen war (Joh. 2,19), baute er ihn wieder, zunächst durch seine Auferstehung. Das aber war sofort der Anfang zu einer ungehemmten Ausbreitung. Alle, die durch lebendigen Glauben ein Geist mit ihm werden (1. Kor. 6,17), alle diese sind auch auf ihm, dem gelegten Grund, lebendige Steine am Tempel Gottes (1. Petri 2,5) und bilden zusammen eine Behausung Gottes im Geist (Eph. 2,22). Sie haben im Glauben einen offenen Eingang ins Allerheiligste (Hebr. 10,19). Doch stehen sie noch im Glauben, nicht im Schauen. Der Anker ihrer Seele geht wohl in das Inwendige des Vorhanges (Hebr. 6,19), und wenn die Wellen der Trübsal daran reißen, spüren sie, daß er festhält. Aber das Ziel ist erst erreicht, wenn das Wort erfüllt ist (Apg. 21,3).“

Christi Tod brachte die Erfüllung
Soweit die Ausführungen Wilhelm Michaels. Nach seinen Worten kann das in Hebräer 9 beschriebene Gegenbild im Himmel, aber eben nicht in allen Details mit dem irdischen Heiligtum verglichen werden, weil Christus durch seinen Tod die Erfüllung des alttestamentlichen Opferdienstes brachte. Wer Wilhelm Michael kannte, wusste, wie sehr er mit beiden Beinen auf dem Boden der Adventbotschaft stand. Als Mensch war er äußerst beliebt. Da er in der „Wandervogel-Bewegung“ zu Hause war, ging er sehr gern zu Fuß, so ins etwa 14 km entfernte Burg, und brachte von dort den alten Geschwistern des Seniorenheims in seinem Rucksack ihre Medikamente mit. Das blieb in Erinnerung.

Wilhelm Michael hielt trotz Kränkungen am Glauben fest
Doch die Strafversetzung als Lehrer (nicht als Schulleiter) zur Marienhöhe kränkte ihn tief. Andere hätten alles hingeworfen, er aber nicht. Obwohl er weitere Artikel und Manuskripte über verschiedene Themen verfasste, verwehrte ihm die Gemeinschaft die Veröffentlichung. So ließ ihn die Gemeinschaftsleitung im August 1937 wissen: „In der gestrigen Sitzung unsers kleinen Ausschusses nahmen wir Stellung zu Deinem Schreiben. Es wurde beschlossen, Dir zu raten, die Schrift ‚Aus Gottes Schatzkammer‘ nicht drucken und auch nicht in einem andern Verlag herausgeben zu lassen, da es nach den Regeln der Gemeinschaft nicht angängig ist, Schriften, die vom Schriftenausschuss abgelehnt worden sind, durch andre Verlage herauszugeben.“ Wilhelm Michael beugte sich. Die längst fällige Rehabilitation Trotzdem blieb einiges erhalten, was die Zeiten überdauerte. So beispielsweise einige Lieder, die es bis in unser Gemeindeliederbuch „Glauben, Hoffen, Singen“ schafften, u.a. „Mein Jesus, ich lieb dich, ich weiß, du bist mein.“ Darin lag sein Trost gerade auch in schwierigen Zeiten. Wilhelm Michael hätte es längst verdient, rehabilitiert zu werden.

Ein Brief und seine Folgen | Theologische Hochschule Friedensau
Dr. Wilhelm Michael bei der Arbeit.
Foto: Archiv Theologische Hochschule Friedensau

Doch die Strafversetzung als Lehrer (nicht als Schulleiter) zur Marienhöhe kränkte ihn tief.