Bis dass der Tod euch scheidet

15. Okt. 2019 / Wissenschaft & Forschung

Jede zweite Ehe endet in einer Scheidung, so wird oft behauptet. Deshalb müssen wir etwas für die Ehen tun. Das ist in zweierlei Hinsicht falsch und in seiner Schlussfolgerung richtig.

Ja, wir müssen etwas für unsere Ehen tun! Als Leiter des Studiengangs M.A. in Counseling mit Schwerpunkt Ehe-, Familien- und Lebensberatung bin ich natürlich für die Stärkung von Ehen. Ich glaube sogar, dass es Teil unserer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft ist, das, was wir als Christen zum Thema Ehe und Familie anzubieten haben, tatsächlich auch an den Mann und an die Frau zu bringen. Dazu gehört ganz sicher nicht nur eine problemorientierte Eheberatung, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, sondern auch Ehevorbereitung und Stärkung von gesunden Partnerschaften.

Aber die Aussage, jede zweite Ehe ende in Scheidung, ist trotzdem falsch, und zwar aus zwei Gründen:

Zum einen ist es schlicht eine falsche Verwendung von Statistiken. Die zitierten Statistiken besagen nämlich: Auf zwei neue Ehen kommt eine Scheidung. Deshalb: Jede zweite Ehe ende mit der Scheidung. Der Denkfehler besteht darin, die geschiedenen Ehen nicht mitzuzählen. Wenn zwei Ehen neu geschlossen werden und eine Ehe geschieden wird, sprechen wir tatsächlich von drei Ehen, nicht von zwei.

Ich habe die Daten überprüft. Sie sind für die meisten europäischen Länder ähnlich: Jede dritte Ehe endet in einer Scheidung, oder 30 (plus) Prozent. Darüber hinaus geht in Europa die Zahl der neuen Ehen zurück, die Zahl der Scheidungen steigt. Im Jahr 2016 gab es in Europa 2,2 Millionen neue Ehen und 1 Million Scheidungen.[1]

Auch wenn die Zahl niedriger ist als oft angenommen – nur 1/3, nicht die Hälfte –, würden wir wahrscheinlich alle zustimmen, dass sie zu hoch ist. Erwähnen wir nur die Waisenkinder der Scheidung, das heißt minderjährige Kinder, deren Eltern eine Scheidung durchlaufen. Um es grafisch auszudrücken: Alle zwei Jahre füllen wir eine Stadt von der Größe Venedigs mit Scheidungswaisen allein in Deutschland:[2] 2019 Venedig, 2021 ein weiteres Venedig, 2023 ein weiteres Venedig ... plus ein paar kleine Dörfer – voll von Kindern und Jugendlichen, die unter den Folgen der Scheidung leiden müssen. Ein Skandal in meinen Augen! Was tun unsere Kirchen dagegen?

Nicht jede zweite, sondern jede dritte Ehe endet mit der Scheidung. Aber selbst dieser Satz ist falsch! Tödlich falsch. Tatsächlich – ob es uns gefällt oder nicht: Jede (!) Ehe endet mit einer Scheidung: 1/3 durch Gerichte, 2/3 durch Tod.

Einige Fakten sind so offensichtlich, dass sie leicht übersehen werden. Es gibt kein „happily ever after“. Es gibt einen Punkt, an dem jede Ehe endet. Es ist ein schmerzhafter Moment – und als jemand, der es erlebt hat, weiß ich wohl, wovon ich rede. Und wenn man selbst mitten drinsteckt, werden einem die Augen für einige seltsame und wunderbare strukturelle Probleme innerhalb der Kirche geöffnet, denen wir einfach nicht viel Aufmerksamkeit schenken. Und so möchte ich ein Plädoyer für eine Gruppe von Menschen in Kirche und Gesellschaft abgeben, die oft übersehen wird: die Witwen und Witwer.

Sie stellen eine größere Gruppe als die Gruppe der Geschiedenen dar, aber sie werden weniger beachtet. Ja, sie erhalten als Trauernde viel Aufmerksamkeit. Sie werden in der akuten Phase der Trauer unterstützt (was bei Geschiedenen selten vorkommt – leider ... denn auch ihr Verlust ist sehr real)! Aber Witwen und Witwer werden nicht als das anerkannt, was sie sind. Was sind sie denn?

Singles? Naja ... sie befinden sich in einem „single“-Zustand, aber passen dennoch nicht ganz in die Kategorie.

Senioren? Wir haben Angebote für ältere Menschen. Aber mit 56 fühlte ich mich für ältere Menschen nicht alt genug, als ich Witwer wurde – und es gibt Witwen und Witwer, die viel jünger sind als 56.

Irgendwie verheiratet? Ehemalig verheiratet? Doppeltgebunden-verheiratet? In Deutschland tragen wir Eheringe, wenn wir verheiratet sind. In der Tat, verheiratet zu sein und keinen Ring zu tragen, würde als Täuschung angesehen werden. Wenn nun ein Ehepartner stirbt, tragen viele in Deutschland auch den Ring des verstorbenen Ehepartners – als Zeichen der Trauer. Ich trug beide Ringe, für eine ganze Weile. Ich war nicht durch einen Ring gebunden, sondern durch zwei. Und ich musste erst lernen, dass meine Ehe beendet war. Ich hatte nicht nur meine Frau Carol verloren, sondern auch die Ehe. So reifte bei mir die Entscheidung heran, die Ringe nicht mehr zu tragen. Und an einem Karfreitag, fast schon als Ritual, nahm ich meine beiden Ringe ab; mit viel Schmerz, viel Weinen.

Warum beschreibe ich das?

Weil wir diese Tatsache oft übersehen. Nicht nur die Tatsache, sondern die Menschen ... die Witwen und Witwer in unserer Mitte. Und es gibt viele von ihnen.

Meistens alt, oft im mittleren Alter, manchmal aber auch jung. Ihre Probleme sind vielfältig und unterschiedlich.

Wir sprechen immer von der Gemeinschaft, der Freundschaft, die durch den Tod eines Ehepartners verloren geht. Aber was genau bedeutet das? Vielleicht kann ich aus eigener Erfahrung ein paar Stichworte nennen.

Erst nach Carols Tod wurde mir klar, wie viel sie lachte. Auf fast allen Bildern von ihr ist dieses freche Lächeln, wenn nicht sogar ein glückliches Lachen zu sehen. Was für ein Schatz. Was für ein Verlust.

Ich musste das Kochen neu lernen. Spaghetti mit Knoblauch. Knoblauch mit Spaghetti. Und dann wieder Spaghetti mit Knoblauch. Ich war dankbar für jedes bisschen Essen, das mir angeboten wurde – auch wenn ich selten Hunger hatte.

Ich musste auch umziehen. Ich konnte es einfach nicht ertragen, in dem Haus zu leben, in dem ich das Eheleben geteilt hatte, die Kinder aufwuchsen und erwachsen wurden. Niemand würde mich mehr erwarten, wenn ich nach Hause kam, aber alles war eine einzige schmerzhafte Erinnerung. Andere Witwen und Witwer können dieses Thema ganz anders erleben. Ich kann nur für mich selbst sprechen. Manchmal denken wir als Gemeinde, dass wir alle das Leiden auf die gleiche Weise erleben. Deshalb sind unsere Antworten oft „one size fits all“. Das ist falsch. Wir sind unterschiedlich und das ist gut so.

Ein weiteres großes Tabu ist die Sexualität.[3] Während der Trauerzeit wird der Sexualtrieb für die meisten Menschen nachlassen. Aber verschwindet die Sehnsucht nach der tiefsten ehelichen Vereinigung einfach? Nein. Tatsächlich steigt der sexuelle Drang für einige sogar. Als Freikirche gibt es viel erregte Diskussionen über vorehelichen Sex. Ich habe noch nie eine einzige Diskussion über „nachehelichen“ Sex gehört. Nun mag man ja meinen, die meisten Witwen und Witwer seien alt ... also ist es kein Problem. Wieder falsch. Befragten wir zu diesem Thema Menschen, die in Altenheimen arbeiten, wir wären wohl überrascht!

Und es gibt noch andere Probleme. Zum Beispiel finanzielle. Wie kann ich von dem reduzierten Einkommen leben, nachdem das Einkommen meines Partners verschwunden ist? Es sage keiner, dass die Lebenshaltungskosten sinken – also ist es in Ordnung. Mein Partner hat keineswegs so viel gegessen! Und der größte Teil der Lebenshaltungskosten bleibt bestehen. In biblischen Zeiten war dies das Hauptthema: der finanzielle / wirtschaftliche Verlust für Witwen.

Übrigens „Witwen“ – nicht ein einziges Mal werden Witwer in der Bibel erwähnt (was mir viel über das soziale Gefüge der Zeit sagt). Aber es gab eine starke Verpflichtung, sich gut um die Witwen zu kümmern, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament.

Fassen wir zunächst einmal zusammen und gehen dann noch einen Schritt weiter. Nachdem ich selbst betroffen war – übrigens bin ich jetzt wieder verheiratet ... bin ich immer noch Witwer? – liegt es mir am Herzen, auf eine Gruppe von Menschen aufmerksam zu machen, die wir manchmal übersehen: die Witwen und Witwer. Dazu drei Punkte:

  1. Sie haben Schmerzen. Der Verlust eines Ehepartners ist ein unglaublicher Schmerz. Und nein, das kann man sich nicht vorstellen. Als ehemaliger Krankenhausseelsorger bedeutet mir „Empathie“ sehr viel. Und natürlich lassen sich alle möglichen Szenarien theoretisch durchspielen. Und doch unterscheidet sich der Schmerz der tatsächlichen Witwen- oder Witwerschaft von allem, was man jemals erwartet hat. Deshalb müssen wir diese Gruppe von Menschen vor Gott bringen, der eines Tages – nicht jetzt, sondern eines Tages – alle Tränen abwischen wird. Bis dahin sind wir aufgerufen, mit denen zu weinen, die weinen (Römer 12,15).
  2. Sie haben Bedürfnisse. Ich habe nur einige dieser Bedürfnisse erwähnt, die weit über „emotionale Bedürfnisse“ hinausgehen. In der Bibel werden in der Regel Witwen und Waisen gemeinsam erwähnt und ihre ganz praktischen Bedürfnisse festgehalten. Mehrmals bezeichnet sich Gott als Gott der Witwen und Waisen. Wenn wir das Volk Gottes sind, sollte darin eine Aufforderung erkannt werden: „Witwen und Waisen in ihrer Not zu helfen … das ist wirkliche Frömmigkeit, mit der man Gott, dem Vater, dient“ (Jakobus 1,27 Hfa).
  3. Sie haben etwas Einzigartiges zu bieten. Dies ist ein letzter Punkt – etwas anders als der vorherige. Wenn man Pauls Ermahnung über Witwen liest, klingt das ziemlich schrecklich ... Junge Witwen, behauptet er, „gewöhnen sich daran, bei anderen Leuten träge herumzusitzen. Dazu werden sie auch noch geschwätzig und beschäftigen sich mit Dingen, die sie überhaupt nichts angehen“ (1. Timotheus 5,13 Hfa). Ich kenne die persönlichen Erfahrungen des Paulus nicht, aber es klingt ziemlich hart und würde mehr Exegese erfordern, als hier Gelegenheit ist. Aber auch Paulus (der ein Problem mit jungen Witwen zu haben scheint) gibt uns einen Hinweis darauf, was Menschen in Witwenschaft zu bieten haben: „Eine Witwe dagegen, die ganz allein ist, hat gelernt, ihre Hoffnung auf Gott zu setzen und Tag und Nacht zu ihm zu flehen und zu beten“ (1. Timotheus 5,5). Hier mein Versuch, diesen einen Vers durch die Brille meiner eigenen Erfahrung zu übersetzen:

Menschen, die einen Ehepartner durch den Tod verloren haben, haben eine andere Perspektive auf das Leben: „hat gelernt, ihre Hoffnung auf Gott zu setzen“.... „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben“ (Psalm 46,2). Der Fokus ändert sich. Wir profitieren von einer solchen Veränderung. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90, 12). Vielleicht wird dieses Gebet des Mose von Witwen und Witwern in unserer Mitte beantwortet. Sie lehren uns, das Leben zu leben. Jeden Tag. Jeden Tag so, als ob es unser letzter wäre.

„Tag und Nacht zu ihm zu flehen und zu beten“, das kann ich bestätigen. Ich habe Tag und Nacht viel mehr Zeit im Gebet verbracht. Tatsächlich habe ich eine neue Sichtweise auf das Gebet gefunden. Ich habe das Fürbitte-Gebet wiederentdeckt und bin überzeugt, das hatte mit meiner Witwerschaft zu tun. Wir brauchen Menschen in unserer Kirche, die Fürbitte leisten. Nein, wir brauchen keine Mittler, um zum Vater zu kommen, aber wir brauchen Menschen, die unser Volk im Gebet vor Gott bringen. Und ja, jeder und jede in der Kirche kann so eine Person sein. Aber ich vermute, dass die Witwen und Witwer unter uns – durch ihre Erfahrung – eine besondere Berufung, wenn nicht sogar eine besondere Gabe zum Fürbitten haben.[4] Sie haben den Gemeinden etwas zu bieten.

So möchte ich für die Witwen und Witwer in unseren Gemeinden eintreten, dass sie gesehen, anerkannt und unterstützt werden in ihrem Schmerz, mit ihren Bedürfnissen und wertgeschätzt in dem, was sie der christlichen Gemeinde zu bieten haben.

Dieser Blogbeitrag ist eine leicht überarbeitete Übersetzung eines Impulsreferates, den der Autor auf der internationalen Konferenz People 7.0 im September 2019 in Italien gehalten hat.

Andreas Bochmann ist Professor für Beratung und Seelsorge und leitet den Studiengang M.A. Counseling. Im Sommer 2016 verstarb seine erste Ehefrau Carol völlig unerwartet im Alter von 55 Jahren, nach knapp 35 Ehejahren.

[1] https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Marriage_and_divorce_statistics (Zugriff: 4.10.2019).

[2] Venedig hat laut Wikipedia gut 260.000 Einwohner. Seit 2008 verzeichnet Deutschland im Durchschnitt jährlich über 137.000 Scheidungswaisen. Die Tendenz ist – wie auch die Zahlen der Scheidungen – rückläufig, doch immer noch als dramatisch zu bezeichnen.
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Eheschliessungen-Ehescheidungen-Lebenspartnerschaften/Tabellen/ehescheidungen-kinder.html (Zugriff: 4.10.2019).

[3] https://www.zeit.de/hamburg/2019-03/trauerbegleitung-trauer-verlust-sexualitaet (Zugriff: 4.10.2019).

[4] Das ist nicht nur eine persönliche Erfahrung, sondern hat sich auch in zahlreichen Gesprächen bestätigt.

Bild der THH Friedensau
Der Autor des Blog-Beitrages: Prof. Andreas Bochmann
© ThHF | Tobias Koch